Evolution
Blätter trug, um sie
über den Tag zu bringen. Aber sie vermochte sich nicht
vorzustellen, dass morgen ein weiterer Tag war und dass die
Vorräte irgendwann aufgebraucht sein könnten.
Die Anthros wurden jedenfalls schon hungrig; ihr Körper
setzte die nährstoffarme Nahrung schnell um. Sie lösten die
Kämm-Gruppen auf und schwärmten über die Äste des
entwurzelten Mangobaums aus. Der Baum hatte die meisten Früchte
sowie die Bewohner verloren, als er in den Fluss gestürzt war.
Brille, einer der Brüder, entdeckte jedoch schnell einen
Fruchtstand, der zwischen einem Ast und dem Baumstamm eingeklemmt
war. Mit einem Ruf verständigte er die anderen.
Die neue kleine Gesellschaft arbeitete effizient. Es gelang Brille
zwar, sich eine Frucht zu schnappen, doch dann wurde er von
Weißblut verdrängt. Und Weißblut musste wiederum
Fleck weichen. Obwohl sie nur etwa zwei Drittel der Größe
von Weißblut hatte, war das an ihrer Brust hängende Junge
so etwas wie ein Rangabzeichen. Weißblut nahm sich eine Frucht
und ließ Fleck dann grummelnd den Vortritt.
Streuner und die Brüder wussten, dass sie erst dann an die
Früchte herankommen würden, wenn die Stärkeren sich
bedient hatten.
Allein ging sie vorsichtig und auf allen vieren zum Rand des
Floßes, wo das Gewirr der Äste nicht mehr ganz so dicht
war. Die zwei furchtsam aneinander geschmiegten Rostroten flohen bei
ihrer Annäherung. Durchs Laub sah sie schmutzigbraunes,
träge plätscherndes Wasser, auf dem Holzstücke und
Blätter trieben. Das gestreute, glitzernde Sonnenlicht drang
durch Lücken in der Baumkrone. Das auf den Wellen tanzende Licht
war bezaubernd und einlullend.
Streuner war ebenso hungrig wie durstig. Sie tauchte vorsichtig
die Hand ins Wasser – es war kühl – und schöpfte
einen Schluck. Das Wasser war nur leicht salzig, denn selbst in
dieser Entfernung vom Land verdünnte die starke Strömung
des Flusses das Meerwasser noch. Je mehr sie trank, desto
stärker wurde aber der Salzgeschmack, und sie spie den letzten
Schluck aus.
Die hungrigen und gelangweilten Brüder kamen herbei, als sie
trank. Sie hatte den Kopf zwischen die Blätter gesteckt, die
Arme ausgestreckt und das Hinterteil in die Höhe gereckt. Sie
beschnüffelten sie neugierig und rochen, dass sie noch sehr jung
war – zu jung zum Paaren.
Als die Älteren fertig waren, fielen Streuner und die anderen
über die Früchte her.
Wo sie erst einmal einen vollen Bauch hatten, kamen die Anthros
zur Ruhe. Aber das zerbrechliche Floß war schon so weit aufs
Meer hinausgetrieben, dass das Land nicht mehr zu sehen war. Die
Anthros hatten schon einen Großteil der Früchte des
Mangobaums verzehrt. Und der zufrieden mampfende Dickbauch hatte
bereits das halbe Laub von den Ästen gefressen.
Und keiner von ihnen hatte das hellgraue Dreieck bemerkt, das nur
ein paar Meter entfernt durchs Wasser schnitt.
Der Hai umkreiste das primitive, sich auflösende Floß.
Er war vom Festmahl angelockt worden, das die ertrunkenen
Waldbewohner abgegeben hatten, als sie ins Meer gespült wurden
und hatte das Blut gerochen, das aus dem Kadaver des Indricotheriums
sickerte. Und nun spürte er Bewegung in der Baumkrone, die auf
dem Wasser trieb. Er umkreiste sie berechnend und geduldig.
Der Hai war nicht so intelligent wie die Landbewohner. Aber er war
auch kein Primat, nicht einmal ein Wirbeltier. Sein Rückgrat
bestand nicht aus Knochen, sondern aus zähem Knorpel, die dem
Hai eine größere Beweglichkeit verliehen als höher
entwickelten Fischen. Der Kiefer bestand auch aus Knorpeln, in die
Zähne eingelassen waren. Sie waren wie Steakmesser gezackt und
hervorragend zum Abscheren von Fleisch geeignet. Die lange Schnauze
wirkte plump, teilte das Wasser aber mit der Präzision eines
U-Boots und war mit einer Nase ausgestattet, die auch geringste
Blutspuren witterte. Unter dem Maul befand sich ein Spezialorgan mit
einer außerordentlichen Schwingungsempfindlichkeit, das die
Bewegungen eines verletzten oder kranken Tieres über große
Entfernungen zu registrieren vermochte. Hinter dem kleinen Kopf
bestand der ganze Körper des Hais aus lauter Muskeln; er war
konsequent auf Kraft und Geschwindigkeit ausgelegt und glich einem
Rammbock.
Die Haie waren seit dreihundert Millionen Jahren die Herrscher der
Meere. Sie hatten die großen Auslöschungen überlebt,
bei denen ganze Familien von Land-Räubern weggefegt worden
waren. Sie hatten sich auch nicht der Konkurrenz durch neue
Tierklassen stellen müssen,
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