Ewig sollst du schlafen
nicht, dass das richtig wäre?«
Billy Dean nickte.
Sein alter Herr steckte den Ring ein und zwinkerte Billy zu. Dann löschte er das Licht. »Gute Nacht, mein Junge.«
»Gute Nacht, Pa«, sagte Billy Dean, und als die Tür zufiel, schlug er mit der Faust auf sein Kissen. Er hätte den Ring sofort loswerden sollen, er hätte ihn verkaufen und ein paar Dollar einheimsen können. Er war aber auch vom Pech verfolgt. Anscheinend hatte sein alter Herr Recht. Er war ein Schwachkopf.
Schweißgebadet, mit klopfendem Herzen schlüpfte der Überlebende in den Eingang zu seiner Wohnung in dem alten Haus, das in einem ehrbaren, wenn auch nicht wirklich noblen Stadtviertel lag. Ohne Licht zu machen eilte er die altersschwachen Treppen hinunter in den Keller mit seinen von Spinnweben überzogenen Balken und der niedrigen Decke. Hier unten war es dunkel, es roch nach Erde. Die wenigen Fenster hatten innen Gitterstäbe und waren außen von Ranken überwuchert. Er wurde allmählich nachlässig.
Und das konnte er sich nicht leisten. Nicht jetzt.
Nicht, da er so kurz vor Erreichen des Ziels stand, auf das er so lange hingearbeitet hatte. Nikki Gillettes Freundin hatte ihn gesehen. Hatte ihn womöglich erkannt.
Dummkopf. Dummkopf. Dummkopf.
Dabei war er lange Zeit so vorsichtig gewesen. Das waren nun schon zwei Fehler … Zuerst die Jungen im Wald und jetzt diese Frau im Restaurant. Einen weiteren Fehler durfte er sich nicht erlauben. Er musste sich bereits mit dem Problem im Norden befassen, mit dem Jungen, der ihm ins Gesicht geblickt hatte, und jetzt… Er knirschte mit den Zähnen. Wie hatte er so leichtsinnig sein können? Aber die Versuchung war so groß gewesen, eine Verlockung, der er nicht hatte widerstehen können. Nach dem Versenden der E-Mail an Reed hatte er festgestellt, dass ihm noch Zeit blieb, Nikki zu folgen … Und dann hatte er alles versaut. Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Heftig.
Die Stimme erklang … erschreckend deutlich. Sie schien in diesem kleinen Keller von den Wänden abzuprallen und in seinem Kopf widerzuhallen.
Was bist du, ein Mädchen? Eine verdammte saudumme Fotze, mehr bist du nicht. Du kannst aber auch gar nichts. Ein dämlicher kleiner Haufen Scheiße.
Die Beleidigungen prasselten auf ihn nieder, schossen in seinem Kopf hin und her und jagten ihm Angst ein. Vor seinem inneren Auge sah er die schmalen Lippen, die sich zu einem höhnischen Grinsen verzogen, sah, wie ein langer Gürtel aus den schmutzigen Jeansschlaufen gezogen wurde, von dicken haarigen Fingern mit starken Knöcheln und abgekauten Nägeln, sah den verschlissenen Lederriemen, im Begriff, seinen Rücken mit Striemen zu überziehen. »Nein!«, schrie er, schmeckte den salzigen Schweiß auf den Lippen und konzentrierte sich wieder auf das Hier und Jetzt, auf das, was er zu tun hatte. Er war klug. Ein intelligenter Mann. Kein Mädchen. Ein Mann! Keine Fotze. »Nein, nein, nein!« Tränen der Scham brannten in seinen Augen, obwohl er sich sagte, dass diese alten Beleidigungen bedeutungslos waren, dass ein ignoranter, nutzloser und gemeiner Schweinehund sie ausgespien hatte. Trotzdem ging sein Atem flach, und die Kränkungen, die er seit einem Dutzend Jahren mit sich herumschleppte, lauerten wie Dämonen in seinem Bewusstsein.
Er würde beweisen, dass sich alle in ihm getäuscht hatten. Er war nicht dumm. Er war kein Mädchen … Er war kein Haufen Scheiße!
Auf unsicheren Beinen ging er zu dem Bücherschrank voll mit altem Kram und bückte sich, um seinen Privatraum aufzusuchen, den Ort, den er seinem anderen Ich eingerichtet hatte. Dem starken Ich.
Schon als er sein Versteck betrat, fühlte er sich sicherer. Hatte alles unter Kontrolle. Der Überlebende. Und der Grabräuber. Der klüger war als die anderen.
Aus einem Regal zog er sein Album hervor und legte es aufgeschlagen auf den selbst gefertigten Tisch. Vergilbte Zeitungsartikel mit körnigen Fotos und verblichenem Text waren unter durchsichtige Plastikfolie gepresst. Mit gierigen Blicken verschlang er die Artikel, die er längst auswendig kannte.
Langsam schlug er die Seiten um, bis er zum Ende des Albums gelangte, wo ihm die Gesichter auf den gesammelten Fotos entgegen starrten. Einige lächelnd, andere finster, wieder andere geistesabwesend. Es waren Menschen, die in ihrer Arglosigkeit nicht ahnten, dass sie alle das gleiche Schicksal erwartete. Doch sie würden es noch erfahren. Er hatte überlebt. Sie würden nicht überleben. Denn sie waren
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