Ewig sollst du schlafen
Gläsern. Er hielt sich die Speisekarte vors Gesicht und tat so, als würde er eifrig darin lesen.
»Hi.« Sie setzte sich ihm gegenüber auf die gepolsterte, mit Kunstleder überzogene Bank. »Ich darf nicht mit dir gesehen werden.«
»Wer soll dich denn hier sehen?« Dir Blick schweifte durch das Restaurant. Der Gastraum war so gut wie leer. Nicht einmal die Kellnerin schaute zu ihnen herüber. Sie war zu sehr damit beschäftigt, mit zwei Gästen am Tresen zu flirten.
»Außerdem sind wir alte Freunde.«
»Sind wir das wirklich?«, gab er zurück, und innerlich zuckte sie unter der Verbitterung in seinem Ton zusammen. Offenbar war er schlecht gelaunt. Gereizt. Und distanziert. »Natürlich.« Sie lächelte trotz seiner unterkühlten Haltung. »Wir kennen uns doch schon seit einer Ewigkeit.«
»Hm.«
»Du bist mein Lieblingsbulle.«
»Weil ich dir Geheimnisse verrate.«
»Wohl kaum.« Die Kellnerin, eine dünne Frau mit tief eingegrabenen Lachfalten, bemerkte sie endlich und kam an ihren Tisch. »Darf ich Ihnen zunächst einmal etwas zu trinken bringen?«
»Für mich einen Kaffee.«
»Ein Bier.« Während die Frau mit heiserer Stimme, die sie als starke Raucherin entlarvte, die Sonderangebote herunterrasselte, hob Cliff kaum den Blick. »Ich habe keinen Hunger«, sagte Nikki. »Nur einen Kaffee, bitte.«
Cliff richtete die Augen erneut auf die in Plastik gebundene Speisekarte. »Ich nehme das gebratene Hühnerbrustfilet, Pommes frites und Brot.«
»Das ist alles?« Die Kellnerin kritzelte auf ihren Block und sah Nikki auffordernd an.
»Ja.«
»Dann komme ich gleich mit den Getränken.« Auf dem Weg zur Küche riss sie das oberste Blatt von dem Block. »Du sagst, jemand hätte deine Reifen aufgeschlitzt.«
»So ist es.« Nikki berichtete von den Vorfällen des Abends, und Cliffs Miene wurde immer düsterer. »Himmel, pass bloß auf dich auf. Aber wahrscheinlich waren das nur ein paar Halbstarke.«
Nikki widersprach ihm nicht. Fasste ihre Ängste nicht in Worte. Sie musste wieder an die anonyme Botschaft denken, sagte sich jedoch, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt sei, darüber zu reden. Sie würde Cliff höchstens beunruhigen. »Komm, ich lade dich zum Essen ein«, bot er an. »Ich mag so spät nichts mehr, und außerdem habe ich schon bei meinen Eltern zu Abend gegessen. Das liegt zwar Stunden zurück, aber sie haben mich geradezu gemästet. Ich bin pappsatt.«
Cliffs Feindseligkeit bröckelte. »Wie geht es ihnen?«
»Unverändert. Mom kränkelt. Dad merkt es offenbar nicht oder will es nicht merken. Sie scheinen einigermaßen miteinander auszukommen, aber manchmal bin ich mir dessen nicht so sicher. Ihr Verhältnis wirkt irgendwie … na, du weißt schon, angespannt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Kyle geht Mom und Dad aus dem Weg, als hätten sie die Pest. Ich schätze, das hängt damit zusammen, dass er sich nun als einziger Sohn unter Druck fühlt. Er ist nicht in Andrews Fußstapfen getreten, keiner von uns, das weißt du ja. Aber es hat Kyle genauso wenig gepasst, dass Dad von ihm eine Karriere als Sportler oder Wissenschaftler erwartete. Er ist ein Einzelgänger, baut Sprinkleranlagen und hat nicht mal was mit Frauen am Hut, soviel ich weiß. Mom fürchtet, dass er schwul ist, und Dad meidet das Thema. Ich hoffe nur, dass er irgendwann jemanden findet, mit dem er glücklich wird.« Sie seufzte. Wünschte sich, ihrem jüngeren Bruder näher zu sein, und wusste doch, dass das ein Traum bleiben würde.
»Und Lily besucht unsere Eltern öfter als ich. Anscheinend hat sie doch nicht alle Brücken zwischen sich und Mom und päd abgebrochen, wahrscheinlich wegen Phee, ich meine Ophelia, meine Nichte. Nach dem ersten Schock darüber, dass Lily ein uneheliches Kind bekommt, haben sich Mom und Dad gründlich umgestellt. Als das Baby da war, wurden sie weich, und das ist auch gut so.« Cliff nickte zustimmend.
Die Kellnerin erschien, brachte die Getränke und wurde von einem Gast mit Cowboyhut am Tresen herangewinkt. Als sie außer Hörweite war, verschränkte Cliff die Arme auf der Tischplatte. »Weißt du, Nikki, ich kann so nicht weitermachen. Wenn ich dich weiterhin mit Insiderinformationen versorge, kann mich das meinen Job kosten.«
»Du sorgst nur dafür, dass die Öffentlichkeit informiert wird. Und das ist ihr Recht.«
»Ja, ja, das habe ich schon tausendmal gehört. Vergiss es. Darum geht es hier nicht. Ich erzähle dir so manches, weil ich sauer bin und Dampf ablassen muss.
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