Ewig
sein Vorfahre jemals daran gedacht hatte, dass Generationen später wieder ein Wagner sich auf den Weg nach Chemnitz machen würde, um den »Höllenzwang« auszugraben. Seine kleinen Ritter hatten erst »sterben« müssen, bevor sie ihr Geheimnis preisgegeben hatten. War es bei Friedrich nicht genauso?
Einige Abteile weiter hinten im Zug zog ein Mann sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer, die auf die israelische Botschaft in Wien eingetragen war. Trotz der frühen Stunde hob schon nach dem ersten Läuten jemand ab, der sich nur unverbindlich mit »Hallo« meldete. Der Anrufer beherzigte den Rat des Experten, der ihm tags zuvor eindringlich immer wieder gesagt hatte: »Niemals Namen in Telefongesprächen!«
»Wir sind gestern in dem grünen Mercedes nebeneinander gesessen und ich bin jetzt auf dem Heimweg.«
Sein Gesprächspartner schwieg.
»Es wird Sie vielleicht interessieren, dass die Person Ihrer, hmmm, sagen wir, Begierde gerade mit dem Zug nach Dresden reist und dann weiter nach Chemnitz. Ich habe ihn erkannt, er mich natürlich nicht. Der Reporter begleitet ihn. Es war reiner Zufall, dass ich gehört habe, wohin …« Das regelmäßige Tuten verriet ihm, dass sein Gesprächspartner bereits aufgelegt hatte.
Breitensee, Wien/Österreich
D er Beobachter, der die gesamte Nacht in der schwarzen Limousine verbracht hatte, stieg aus und streckte sich. Nachdem der rote Golf Wagners weggefahren war, hatte er überlegt, ihm zu folgen und sich dann doch dagegen entschieden. Im spärlichen Frühmorgenverkehr wäre er bestimmt aufgefallen. Sicherheitshalber hatte er noch eine halbe Stunde gewartet, aber jetzt war er überzeugt, dass die Remise leer war. Entweder der Kommissar war gestern nicht wieder auf Besuch gekommen oder er schlief noch. Aber das würde sich bald herausstellen. Li Feng freute sich darauf, dass er ihn vielleicht in einem der Gästezimmer überraschen würde. Dann wäre die Ausbildung bei der NVA inklusive Sprachkurs doch zu etwas gut gewesen, dachte sich der General und freute sich auf Berners überraschtes Gesicht, wenn er ihm auf Deutsch einen »Guten Morgen« wünschen würde.
Li Feng versperrte den Audi, zog einen Schlüssel aus seiner Tasche und lief schnell und lautlos zum großen Tor der Remise. Es wurde langsam heller, aber nach mehr als sechs Stunden Überwachung war sich Li Feng sicher, dass keine Menschenseele in der Nähe war. Der Schlüssel passte und öffnete problemlos das Schloss. Manchmal ist dieser Südafrikaner doch zu etwas gut, dachte sich der General und zog die Tür leise wieder hinter sich zu.
Li Feng sah sich im Halbdunkel um und entdeckte nach und nach die Spuren der vergangenen Nacht. Leere Gläser, umgekippte Weinflaschen, Teller mit Essensresten. Er bückte sich und hob interessiert die Bruchstücke einer Ritterfigur auf, die über und über mit Lackschichten bemalt war. Er betrachtete den Hohlraum im Holz genau und bevor er die Stücke wieder auf den Boden fallen ließ, sah er eine zweite, ähnlich gearbeitete Figur halb versteckt unter dem Sofa liegen. Sie war noch ganz und Li Feng brach ihr den Hals. Enttäuscht musste er feststellen, dass sie massiv war, es existierte kein noch so kleiner Hohlraum.
Nachdenklich ließ der General den Blick über den Couchtisch schweifen und sah erst dann den weißen Zettel mit der hastig hingekritzelten Notiz: »Für Kommissar Berner. Sind auf dem Weg nach Chemnitz. Lösung greifbar nahe. P.W.«
Li Feng fluchte, steckte den Zettel ein und rannte aus der Remise. Es hatte also doch einen Hinweis gegeben, wie die chinesischen Wissenschaftler es schon seit Langem vermutet hatten, eine Überlieferung innerhalb der Familie Wagner. Li Fengs Gedanken rasten. Die Fachleute hatten auch schon zu DDR-Zeiten nach dem Buch gesucht, aber ohne genaue Angaben war es sinnlos gewesen. Alles Material zu Fausts »Höllenzwang« war seit Jahren in Beijing zentral gesammelt, jedem noch so kleinen Hinweis nachgegangen worden. Bisher immer vergebens.
Der General startete den Audi und raste los. Während sie Archive und Sammlungen auf den Kopf gestellt hatten, sich durch Bibliotheken gelesen und allen Hinweisen von Zeitzeugen nachgegangen waren, Sagen und Legenden auf ihren Gehalt überprüft und verzweifelt Goethes Leben nach verborgenen Hinweisen durchforstet hatten, in all dieser Zeit war die Lösung greifbar nahe, versteckt in einer der beiden Ritterfiguren, die wahrscheinlich von einer Generation an die nächste weitergegeben worden
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