Ewig
aus ihr heraus und sie erkannte ihre eigene Stimme nicht mehr. »Meine Großeltern leben nicht mehr …«, setzte sie an und verstummte dann.
»Woher weißt du das so sicher, Valerie?«, fragte die Stimme und zugleich rief Paul: »Kommst du endlich?«
Mit einer Handbewegung schickte sie die drei Männer vor und lehnte sich verwirrt an den Wagen. Alle ihre Bedenken wegen des eleganten Unbekannten waren vergessen. Was die Stimme am Telefon zu ihr sagte, war ungeheuerlich und ihre Gedanken überschlugen sich.
»Meine Eltern haben mir immer erzählt, meine Großeltern wären in den Konzentrationslagern des Dritten Reichs umgekommen. Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln«, stellte Valerie klar. Das konnte nur eine Verwechslung sein, beruhigte sie sich und sah Wagner und Sina nach, die neben dem Unbekannten über den Feldweg in Richtung des alten Klosters schlenderten.
»Dann haben sie dir nicht die ganze Wahrheit gesagt«, beharrte die Stimme, die überraschend fest klang. »Deine Mutter ist meine Tochter, ihr Mädchenname ist Wimberger. Richtig?«
In Valeries Ohren begann es zu sausen. Eine Frau im Trainingsanzug und mit zwei Nordic-Walking-Stöcken lief an ihr vorbei, schaute sie neugierig an.
»In meinem österreichischen Reisepass stand Alfred Wimberger, ich bin ihr Vater und dein Großvater, Valerie. Als die Nationalsozialisten in Österreich 1938 einmarschierten und die Ostmark dem Reich eingliederten, wie es damals hieß, bin ich bei Nacht und Nebel in die USA ausgewandert und habe meinen Namen in Fred Wineberg geändert. Ich habe mich angepasst wie viele andere auch.«
Valerie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Heute bin ich zum ersten Mal wieder nach Wien zurückgekehrt, weil ich in den Reportagen von Paul Wagner gelesen habe, dass du hinter dem größten Geheimnis der Menschheit her bist, dem Geheimnis von zwei Kaisern.« Der alte Mann machte eine Pause. »Dem Geheimnis der Unsterblichkeit.«
»Woher wissen Sie das?«, platzte Valerie heraus, »das haben wir erst gestern in Graz …«
»… erst gestern?«, unterbrach sie Wineberg. »Das ist doch offensichtlich, wenn man die Berichte von Wagner ernst nimmt und die richtigen Schlüsse zieht.«
Das alte Kloster, von dem nur mehr ein paar spärliche Mauerreste standen, schien nach und nach von der Natur verschlungen zu werden. Wie ein hungriger, aber lautloser Drache mit unendlicher Geduld schob sich die grüne Decke aus Sträuchern, Schlingpflanzen, Büschen und kleinen Bäumen immer näher an die Lichtung mit den alten Steinen. Sogar auf den brüchigen Mauerkronen wuchsen schon junge Birken. Obwohl jedes Jahr Freiwillige mit Sägen und Macheten versuchten, ihn zurückzudrängen, würde der Drache am Ende doch siegen. Es war nur mehr eine Frage der Zeit.
Unweit der Ruine plätscherte halblaut die heilige Quelle Sancta Maria in Paradyso, von dem der Ort seinen Namen hatte. In Form von Regen soll sie den Feldern des trockenen Tullnerfelds bereits seit Jahrtausenden jedes Jahr aufs Neue Leben geschenkt haben. Und gemessen an den ausgebrannten Kerzen, Heiligenbildchen und anderen Resten frommer Verehrung zog das angeblich wundertätige Wasser nach wie vor Leute an.
Das versunkene Franziskaner Kloster rund fünfundzwanzig Kilometer westlich von Wien lag so abgelegen, dass sich selten ein Spaziergänger in die Nähe des schlanken Holzkreuzes verirrte. Es erinnerte in den Resten der gotischen Kirche an den Orden und die ehemalige heilige Stätte. Viele hatten das Kloster überhaupt schon vergessen, die meisten Wanderer auf dem österreichischen Jakobsweg nach Santiago di Compostela gingen achtlos daran vorüber. Hier gab es seit der ersten Türkenbelagerung von Wien kein Bett und keine Mahlzeit mehr für die Pilger.
Eltern, die am Wochenende zu einem Picknick vor der Stadt aufgebrochen waren und zwischen dem durch eine tiefe Klamm plätschernden Bach, den kleinen Gräben und den wuchernden Büschen ein Lagerfeuer angefacht hatten, ließen unbesorgt ihre Kinder zwischen den bröckelnden Umfassungsmauern der alten Klosterkirche herumklettern.
Bald würden nur mehr ein paar Steine von der großen Vergangenheit übrig geblieben sein. Hohe Fensterlöcher blickten in den Wienerwald hinaus, dessen Boden dicht mit braunem Laub bedeckt war. Der Duft von Bärlauch lag in der Luft. Nicht lange und der Waldboden würde übersät sein vom Grün der Blätter, die viele Wiener jedes Frühjahr begeistert sammelten. Aber noch war alles friedlich und einsam bis auf
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