Ewig
Woher er das chinesische Längenmaß kannte, das weiß ich nicht. Aber er wusste um das Geheimnis der fünf Kirchen und er hat es genützt, um sein ganz persönliches Geheimnis zu verschlüsseln.«
Wagner war verblüfft. »Und du meinst, der Mörder wusste das auch? Er kannte die doppelte Bedeutung des Wortes LI?«
Sina zuckte die Schultern. »Ich habe keine Ahnung, Paul. Ich weiß nur, was ich dir gerade gezeigt habe. Wir haben hier ein mittelalterliches Rebus, das riesengroß ist. Einige Teile davon kennen wir – das Grab Friedrichs, sein Monogramm, die fünf Kirchen, die Selbstlaute, das Drachenviereck, das chinesische Längenmaß, den verschwundenen Leichnam des Kaisers – und alle haben eine doppelte oder dreifache Bedeutung. Aber viele Teile und vor allem den Grund für all das kennen wir noch lange nicht.«
Der Wissenschaftler faltete langsam den Plan zusammen. »Irgendjemand wollte uns mit dem Mord auf eine Fährte locken, will, dass wir für ihn ein Rätsel lösen, das noch nie jemand gelöst hat.« Er schaute seinen Freund an und führte seinen Gedankengang fort. »Ich weiß nicht, ob ich das Geheimnis für jemand anderen lüften möchte. Ich glaube nicht.« Sina strich sich über die Haare und dachte nach. Dann sagte er: »Aber eines weiß ich – ich will, dass wir dieses Rätsel lösen. Für uns.«
Wagner lächelte und nickte. Seine Müdigkeit und seine Zweifel waren wie weggeblasen. »Gut, Georg, einverstanden, damit ist die Entscheidung gefallen. Ich weiß zwar nicht, was Friedrich versteckt hat, aber was immer es ist, er hat sich viel Mühe gegeben.« Wagner rieb sich vergnügt die Hände. »Und wir werden es finden.«
Karlskirche, Wien/Österreich
P eer van Gavint entließ den Fahrer der Botschaft mit einem lässigen Winken und überquerte betont langsam den Wiener Karlsplatz, flanierte durch die Parkanlagen vorbei an einigen Dealern und reagierte nicht auf ihre Angebote. Er zog seine Ray Ban aus der Tasche, setzte sie auf und stieg schließlich die Stufen zur Karlskirche empor. Wegen des kalten Winterwetters trug er einen maßgeschneiderten, dunkelgrauen Anzug aus Kaschmir-Wolle, Budapester Schuhe und einen Burberry, dazu seine üblichen schwarzen Handschuhe. An der Kasse der Karlskirche, die zugleich Gotteshaus, Ausstellung und Museum war, bezahlte er den Eintritt und wandte dabei wie beiläufig sein Gesicht ab.
Aus einem der zahlreichen Informationsständer entnahm er eine gefaltete Broschüre über die Geschichte und den Bau der Kirche und las, während er »die wohl bedeutendste barocke Kirche nördlich der Alpen, erbaut von Fischer von Erlach« betrat, wie ihm der Prospekt verriet. Gavint blieb mitten im Kirchenschiff stehen, bewunderte den Innenraum und den schwer vergoldeten Altar, der ihm wie ein barocker Albtraum vorkam und wandte sich dann nach rechts, dem Lift zu.
Seit wenigen Wochen waren Restaurierungsarbeiten an den Deckenfresken der Karlskirche in zweiunddreißig Metern Höhe im Gange. Deshalb hatte man einen Panoramaaufzug für Besucher eingerichtet, mit dem man nun bequem bis unter die Kuppel fahren und von dort noch einige Stockwerke höher bis in die sogenannte »Laterne« steigen konnte. Der Blick über Wien war einzigartig, vorausgesetzt, das leichte Schwanken des Gerüsts machte das Erlebnis nicht zu einer Zitterpartie.
Gavint nickte dem jungen Mädchen zu, die den Lift bediente und ließ sich unter den Klängen von Franz Schuberts »Forelle« aus den Lautsprechern des Aufzugs hoch tragen, bis die Deckenfresken in Reichweite waren. Dann trat er auf die verwinkelte Plattform aus Holz und Aluminium und schaute sich um. Nur wenige Besucher hatten den Weg in die luftigen Höhen gewagt und Gavint beschloss, auch noch das letzte Stück in die »Laterne« hinaufzusteigen und einen Blick auf Wien zu werfen. So stieg er weiter nach oben, an Heiligen und Putten vorbei, die aus dieser Perspektive verzerrt und weniger schwebend aussahen.
Auf der letzten Plattform angelangt, die kaum sechs Menschen Platz bot, blickte er aus den kleinen Fenstern. Er hatte genügend Zeit, der Abend brach langsam über der Stadt herein und die Lichter gingen an, zuerst einige, dann immer mehr. Wien war eine Stadt nach seinem Geschmack. Elegant und trotzdem ein wenig dekadent, tolerant und freigeistig.
Ich könnte mich im Alter hier niederlassen, dachte er, als er bis zu den Hausbergen der Wiener, dem Kahlenberg und dem Leopoldsberg schaute, die sich im letzten Abendlicht in leichte Nebel hüllten.
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