Ewig
ausgestreckt. Nach anfänglichem Schmollen war der kleine Hund zurückgekehrt und hatte es sich an der Seite von Wagner gemütlich gemacht. Jetzt dösten beide vor der Kulisse des knisternden Feuers vor sich hin, während Sina nach dem Lesen der Informationen, die er gesucht hatte, immer nachdenklicher wurde. Schließlich kramte er einen Plan der Stadt Wien hervor und machte sich Notizen.
Es wird Zeit, unseren schlafenden Reporter zu wecken, dachte er sich und sagte laut: »So arbeitet die freie Presse also unermüdlich im Aufspüren von mitreißenden und herzerweichenden Geschichten.«
Paul Wagner winkte nur verschlafen ab. »Die freie Presse ist in der Krise, Georg, Sinnkrise, Lebenskrise, Glaubenskrise, Schaffenskrise, totale Krise. Vor allem aber ist sie eines – müde.«
»Dann hab ich etwas, das dich blitzartig wieder munter machen wird, besser als jeder Tee und Kaffee, und dir vielleicht den Glauben zurückgibt«, meinte Sina und tippte mit dem Finger auf den Plan von Wien. »Du erinnerst dich an die Buchstaben ›L‹ und ›I‹.«
»Ja, natürlich, 51 in römischen Ziffern, die Buchstabensumme von AEIOU addiert zu 1439, dem Jahr, in dem Friedrich in Wien einzieht, ergibt 1490, dem Todesjahr von Corvinus, dem Mann, der den Raben als Wappentier hat.« Wagner gähnte.
»Ja, es heißt aber auch Li.«
Für einen Moment herrschte Stille im Raum und nur das Feuer im Kamin knisterte. Wagner richtete sich auf. »Was meinst du mit Li?«
»Die zweite Ebene. Ich hab dir gesagt, Friedrich arbeitete immer bei seinen Geheimschriften mit mindestens zwei Ebenen. Einer vordergründigen und einer versteckten, für die hartnäckigen Forscher. Und dann mit vielleicht noch einer …wer weiß. Aber fest steht – Li ist ein altes chinesisches Längenmaß, 644,4 Meter. Und weißt du, wer es eingeführt hat?« Sina lächelte und Wagner war plötzlich hellwach. »Es war der erste chinesische Kaiser Qin Shihuangdi, der mit einer riesigen Terrakotta-Armee in Xi’an begraben liegt und um den sich seit Jahrtausenden viele Mythen ranken.« Sina stand auf und die Erinnerung an seinen Besuch mit Clara in Xi’an kam wie ein dunkler Schatten über ihn. Er versuchte, ihn zu verdrängen und kam zu Wagner herüber, setzte sich auf das Sofa und streichelte Tschak.
»Sagtest du China?« Der Reporter war plötzlich aufgeregt. »Das würde passen … Aber ich gebe zu bedenken, das ›LI‹ hinterlässt der Mörder. Wer sagt uns, dass es etwas ist, das Friedrich kennt? Wieso sollte ein österreichischer Kaiser des 15. Jahrhunderts ein chinesisches Längenmaß kennen? Und wenn ja, was für eine Bedeutung soll das haben?«
»Das hab ich mich auch gefragt«, meinte Sina, stand auf und nahm den Plan von Wien, ging zum großen Esstisch und breitete ihn aus. »Denken wir in der Art von Friedrich. Corvinus, ein Rabe, ein Ring, Symbol der Ewigkeit, des wiederkehrenden Kreislaufs. Also ein Kreis. AEIOU – 51 oder LI. Warum ziehen wir keinen Kreis?«
Wagner war verblüfft. »Einen Kreis um was? Um die Ruprechtskirche?« Sina nickte. »Radius ein ›LI‹ oder 644 Meter. Der halbe Meter sollte keinen Unterschied machen.« Er nahm einen Zirkel, stellte ihn nach dem Maßstab ein und zog einen Kreis auf dem Plan. Beide Freunde beugten sich über die farbige Karte der Wiener Innenstadt.
»Das glaube ich jetzt nicht, das kann nicht wahr sein«, murmelte Wagner und Sina fuhr sich mit seiner Hand geistesabwesend immer und immer wieder über seinen Bart. Dann war es mit einem Mal sehr still und beide Freunde sahen sich entgeistert an. Der Kreis ging genau durch vier der bekanntesten Kirchen Wiens – der Karmeliter Kirche, der Schotten Kirche, St. Michael und der Franziskaner Kirche.
»Das kann auch nur Zufall sein, purer Zufall …«, sagte Wagner und glaubte es doch nicht. Aber Sina war abgetaucht in seiner ganz eigenen Gedankenwelt, voll mit Querverbindungen und schon einige Schritte weiter. Er hatte ein Lineal genommen und verband die Kirchen mit schnellen Bleistiftstrichen. Auf dem Stadtplan entstand die Figur eines Drachenvierecks, das jedes Kind kennt, das je einen Drachen in den Herbstwinden steigen ließ.
»Und das? Ist das auch noch Zufall? Dass die Ruprechtskirche mit der Karmeliter Kirche und der Michaeler Kirche auf einer Linie liegt? Dass die Schotten Kirche und die Franziskaner Kirche im gleichen Abstand gebaut sind und so die Figur ergeben?«
Der Wissenschaftler klopfte mit dem Lineal auf den Plan. »Friedrich hat das gewusst.
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