Ewige Nacht
war schon 18 und arbeitslos, er pendelte fast täglich nach Helsinki.
Draußen roch es nach feuchter Erde und Zigarettenrauch. Seine Mutter Sirkka lehnte am Geländer und rauchte konzentriert. Eine gleichmäßige Wolkenschicht bedeckte den Himmel, aber es war warm.
»In den Straßen mit den vielen Antiquitätenläden hinter dem Justizpalast habe ich ein Geschäft entdeckt, das Stoffe aus einer großen Konkursmasse verkauft«, sagte Timo zu seiner Mutter. Dabei wanderte sein Blick zu dem Ein-Liter-Eisbehälter aus Plastik, in dem eine dicke Schicht von Zigarettenkippen im Regenwasser der vergangenen Nacht schwamm. »Italienische und belgische Stoffe und Gobelins, beste Qualität. Klassische Muster. Ab sechs Euro der Meter. Aber ich glaube, bei größeren Posten kann man über den Preis reden. In Helsinki kostet die gleiche Ware mindestens zehnmal so viel.«
»Aber nicht in Porvoo.« Timos Mutter blies den Rauch aus dem Mundwinkel und blickte mit geneigtem Kopf zum Himmel. In Timos Augen sah sie immer gleich leidend aus. »Mit Textilien fange ich nicht mehr an. Wann hast du das letzte Mal hinter der Theke gestanden? Du hast keinen Kontakt zu den Kunden mehr.«
Timo schwieg. Seine Mutter hatte Recht. Es war nur schade um die Stoffe aus Belgien. Timo war kein besonderer Anhänger der Globalisierung, aber er hätte sich gewünscht, dass ihre Gegner das Ganze aus etwas größerem Abstand betrachteten. Die Globalisierung war kein neues Phänomen. Einst hatten Stoffe den Brüsseler Bürgern großen Reichtum gebracht, dann war der Absatz wegen der Konkurrenz der Engländer zurückgegangen, und Anfang des 15. Jahrhunderts waren die Belgier fast vom Markt verschwunden. Zum Ausgleich ging Brüssel zur Produktion von Wandbehängen über. Auch der Einsatz von Billiglohnkräften war keine neue Erscheinung. Außerhalb von Brüssel hatte man damals mehrere Nonnenklöster gegründet, die den Stoffherstellern als billige Produktionsstätten dienten.
Timo blickte mit einem Auge auf seine Mutter. »Wie viel rauchst du am Tag?«
Sie zog in aller Ruhe an ihrer Zigarette. »Fang nicht schon wieder damit an.«
»Du könntest es wenigstens reduzieren.«
Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Dein Vater hat letzte Woche angerufen.«
Timo erschrak. Er wusste nicht, was er sagen sollte. »Warum?«
Seine Mutter zuckte mit den Schultern.
»Was hat er gesagt? Wo ist er?«
»Er wollte mit dir sprechen.«
»Was hast du geantwortet?«
»Ich habe ihm gesagt, wenn er bisher keinen Grund dazu gehabt hat, wird es auch jetzt wohl nichts Dringendes sein.«
Timos Vater Paavo Nortamo war in den 60er und 70er Jahren bei der Sicherheitspolizei gewesen, bis Alkoholmissbrauch und Gewalttätigkeit Konsequenzen nach sich zogen: Scheidung, Rauswurf, Arbeitslosigkeit, Abrutschen ins Säufermilieu. Für einen Totschlag in obskurer Gesellschaft und unter ungeklärten Umständen hatte er vier Jahre im Gefängnis gesessen. Seit der Scheidung hatte Timo nicht mit ihm gesprochen. Damals war er mit seiner Mutter von Helsinki nach Porvoo gezogen. In den Jahren, die er später selbst bei der SiPo verbracht hatte, war ihm ein bestimmtes Verhalten der älteren Mitarbeiter ihm gegenüber aufgefallen, aber über Paavo Nortamo wurde nie direkt gesprochen.
In Timos Jackentasche klingelte das Telefon. Er wollte nicht antworten, sah aber, dass es Välimäki von der SiPo war.
»Hallo.«
»Es wird dich vielleicht interessieren, dass in der Nähe von Hamina ein ausgebrannter Werttransporter von SecuriGuard gefunden worden ist. Mit einer verbrannten Leiche. Möglicherweise der Fahrer.«
Timo ging auf den Toyota zu, den er sich bei der Zentralkripo geliehen hatte, und räusperte sich. »Wer kümmert sich darum?«
»Mattila stellt eine Truppe zusammen. Der Beifahrer des Geldtransporters sowie Frau und Kind des Fahrers werden vermisst.«
»Ich fahre nach Hamina. Das ist nicht so weit von hier. Ich rufe dich gleich noch mal an.«
Aaro erschien in seinem Kapuzenpulli in der Tür. Er war blass, und seine Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab. »Fahren wir?«
»Ich muss zuerst noch mal in die andere Richtung.«
»Warum?«
»Arbeit.«
»Hat es mit dem Überfall auf den Geldtransporter zu tun?«
Timo hielt neben dem Wagen inne. »Woher weißt du davon?«
»Hab ich gerade im Netz gelesen.«
»Und wo dort?«
»Bei STT.«
Timo drehte sich um und ging ins Haus zurück. »Zeig es mir.«
Aaro flitzte hinter ihm ins kleine Zimmer.
»Was ist denn jetzt?«, rief
Weitere Kostenlose Bücher