Ewige Nacht
Au-pair-Mädchen, ich frage sie, ob sie übermorgen mit der Abendmaschine kommen kann.«
11
Über dem Frachthafen schrien die Möwen am grauen Himmel. Aus dem Schornstein der grün-weißen Finnhansa von Finncarriers quoll schwarzer Rauch, der vom kräftigen Wind auseinander gewirbelt wurde. Auf dem Warteplatz für die PKWs stand ein Renault. Am Steuer saß Noora, neben ihr Ralf. Aus dem Radio drang eine monotone Stimme: »… heute Nacht in Hamina. Die Polizei bittet um Hinweise auf Fahrzeuge, die in der Nähe des Tatorts gesehen wurden …«
Noora fiel auf, wie ruhig sie war. Die Polizei würde ihnen nicht auf die Spur kommen, jedenfalls nicht so schnell, und in Deutschland waren sie praktisch in Sicherheit.
Was uns nicht umbringt, härtet ab, dachte sie. Sie wusste, mit diesem Gastspiel in Finnland hatte sie ihre Position in der G1 wesentlich gefestigt. Sie hatte ihren Part einwandfrei absolviert, selbst wenn die Operation letztlich doch noch scheiterte.
Noora folgte Ralfs Blick. Neben den PKWs stand eine Reihe von Wohnmobilen und Autos mit Wohnwagen, mittendrin ein in Finnland zugelassener Dethleffs, in dem ein dunkelhäutiger Mann mit grauen Locken am Steuer saß.
»Weiß Sakombi mehr als ich?«, fragte Noora leise.
Ralf reagierte nicht. Es wurde still im Auto, man hörte nur die Terminal-Zugmaschinen, die mit den LKW-Anhängern rangierten. Auf ihren Dächern blinkten orangefarbene Lichter. Die finnhansa war ein Frachtschiff, das zusätzlich Kabinen für hundert Reisende bot.
»Wo habt ihr euch kennen gelernt?«, wollte Noora wissen.
»In London. Sakombi hat damals die Kampagne gegen Mobutu organisiert.«
»Was ist er eigentlich von Beruf?«
»Er ist Hydrologe in einer Organisation, die gegen die Privatisierung des Wasserbesitzes operiert. Bald werden die multinationalen Konzerne den größten Teil der Wasservorkommen auf der Erde unter Kontrolle haben. Zuvor hat Sakombi viele Jahre im Kongo gearbeitet.«
»Du sagst, er lebt in England. Ich dachte, Kongolesen gäbe es in Europa vor allem in Belgien.«
»Bei Sakombi ist das anders.«
»Warum?«
»Wie viele Juden, die die Konzentrationslager überlebt hatten, lebten nach dem Krieg in Deutschland? Wie viele ihrer Nachfahren? In der gesamten Kolonialgeschichte gibt es kein anderes Kapitel, das so deprimierend ist wie das Verhältnis zwischen Belgien und dem Kongo.«
Noora schwieg und sah ihn fragend an. Sie wollte nicht nur mehr über Sakombi erfahren, es war auch eine Erleichterung für sie, Ralf endlich wieder reden zu hören.
»König Leopold II. eroberte Ende des 19. Jahrhunderts den Kongo und betrachtete ihn als sein persönliches Eigentum. 1908 ging das Land an den belgischen Staat über. Die Belgier unterwarfen die Kongolesen, machten sie zu Sklaven, brachten Millionen von ihnen um und verdienten mit den Bodenschätzen des Landes und der gewaltsamen Ausbeutung der Bevölkerung astronomische Summen. Was damals mit Blut verdient wurde, floss – bis heute sichtbar – in die Brüsseler Paläste.«
Nooras Blick lag auf dem dunklen Profil im Seitenfenster des Wohnmobils. Sakombi faszinierte sie immer mehr.
»Hast du ›Herz der Finsternis‹ von Joseph Conrad gelesen?«, fragte Ralf.
»Irgendwann im Gymnasium.«
»Das ist nicht bloß eine ›Allegorie‹ oder eine ›mythische Reise ins Innere des Menschen‹, sondern dokumentiert das, was Conrad 1890 im Kongo sah. Alles, was in dem Buch beschrieben wird, stammt aus dem wirklichen Leben. Erinnerst du dich an die Stelle, wo von den Speeren rund ums Haus von Kurtz die Rede ist, auf denen man die Köpfe von Kongolesen aufgespießt hat?«
Noora nickte.
»Conrad beschreibt da, was er rund um die Behausung des belgischen Kapitäns Léon Rom tatsächlich gesehen hat. Wenn du mehr Beispiele für die ruhmreiche Herrschaft Belgiens im Kongo hören willst, frag Sakombi.«
»Er redet nicht mit mir.«
»Das wird er schon noch, wenn ihr euch erst besser kennt.«
Wieder wurde es still im Wagen. Noora beschloss, Ralfs Gesprächigkeit zu nutzen, und fragte nun ganz direkt: »Machen wir in Deutschland weiter? Versuchen wir es noch einmal?«
Ralf schüttelte den Kopf. »Vor uns liegt etwas … Größeres.«
Noora sah ihn scharf an. »Was meinst du damit?«
»Das wirst du noch erfahren.«
»Was soll das sein, dieses ›Größere‹?«
Ralf schwieg.
»Wohin fahren wir in Deutschland?«, fragte Noora hartnäckig weiter.
»Zu Theo.«
»Ist das nicht riskant? Wenn sie Theo ausfindig machen …«
»Ich
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