Ewige Nacht
warmen Schauder, als sie sich im Zug hinsetzte und den Anruf entgegennahm.
»Warum hast du mich nicht mit Mama reden lassen?«, meldete sich Aaro von hinten.
Timo blickte in den Spiegel. »Wir erklären ihr alles, wenn sie nach Brüssel kommt. Wir sollten sie nicht unnötig beunruhigen.«
Aaro saß blass, aber munter auf dem Rücksitz. Zu munter. Überdreht. Bei ihm äußerte sich der Schock in Form endlosen Geplappers.
»Gibt es denn kein Gegenmittel?«, wollte Aaro wissen. »Eine Substanz, die einem die Erinnerung genau so effektiv zurückbringt, wie die K.-o.-Tropfen sie einem nehmen? So schwer kann das doch nicht sein, so ein Mittel zu entwickeln …«
Timo verließ das Krankenhausge lände in Lübeck und fuhr in Richtung A1. Wenigstens hatten sie keine physischen Schäden davongetragen, allerdings w ar die Dosis, den Ärzten zufolge, an der kritischen Grenze gewesen. Sie vermuteten, dass es sich um Anophol oder eine ähnliche, auf das zentrale Nervensystem wirkende Verbindung gehandelt hatte.
»Bestimmt wird dauernd versucht, so ein Gegenmittel zu entwickeln. Denk nur an Onkel Olli. Sein …«
»Das hat doch nichts mit Demenz zu tun, oder? Onkel Olli kann sich seit zehn Jahren an nichts mehr erinnern, aber mir fehlen ein oder zwei Tage.«
Timo beschleunigte auf der Autobahnauffahrt. Er war außer sich, tat wegen Aaro aber so, als wäre er ganz ruhig. Anophol erinnerte stark an die Killerdroge Rohypnol, die bei einer europaweiten Razzia in der Fabrik einer finnisch-estnischen Bande in Helsinki gefunden worden war.
Menschen, die zu einem skrupellosen Raubmord fähig waren, hatten ein wehrloses Kind angegriffen und in Lebensgefahr gebracht. Die Killer wussten, wer Timo und Aaro waren. Was garantierte, dass sie Aaro nicht noch einmal in die Mangel nahmen, wenn ihnen Timo auf der Spur blieb? Wer garantierte, dass sie ihn nicht mit Aaro erpressten, so wie sie den Fahrer des Werttransportes erpresst hatten?
Timo hatte am Telefon mit Heidi Klötz gesprochen, nachdem der Arzt ihn untersucht hatte. Die Klötz war auf dem Weg von Köln zu Ralf Denks Bruder in Wetzlar. Der Arzt hatte Timo geraten, nicht Auto zu fahren, aber Timo sah keinen Grund, den Rat zu befolgen.
Sowohl Heidi Klötz als auch dem Polizisten zufolge, der sie vom Hafen ins Krankenhaus gebracht hatte, hatten sich Ralf Denk und Noora in Travemünde vor den BKA-Leuten in Luft aufgelöst. Obwohl niemand Timo für die Situation verantwortlich machte, wusste er, dass er es war, der alles vergeigt hatte.
Aber er war auch derjenige, der den Fall aufklären würde. Timo lächelte bitter, während er auf der Autobahn Gas gab. Nie zuvor hatte er bei seiner Arbeit eine so große Motivation verspürt, er war geradezu zum Erfolg gezwungen, wenn er Aaro beschützen wollte.
Er versuchte, sich die Ereignisse auf dem Schiff in Erinnerung zu rufen, aber es war unmöglich. Das letzte Erinnerungsbild stammte aus Helsinki, vom Tag vor der Abreise. Dann erinnerte er sich erst wieder an die Kabine von Ralf und Noora, in der er gefesselt aufgewacht war.
»Papa, was ist auf dem Schiff passiert?«
Timo blickte in den Rückspiegel und sah Aaro auf die Felder neben der Autobahn starren. Auf seinem Gesicht lag eine Miene, bei deren Anblick sich Timos Herz zusammenzog.
»Das habe ich dir doch schon gesagt. Man hat uns K.-o.-Tropfen gegeben …«
»Ich meine, was wirklich passiert ist.«
Timo wusste, dass Aaro etwas ahnte, aber er konnte ihm nichts sagen. Das war das Schlimmste an der Situation. Es war das Schlimmste an seinem ganzen Job.
18
Das Hotel Albion in der Via Gollia in Rom war ein Hotel der mittleren Kategorie für Geschäftsleute. Der Betrieb im Frühstücksraum hatte sich bereits gelegt. Unter den Gästen, die den Morgen etwas ruhiger angehen ließen, saßen ein Mann mittleren Alters und eine Frau. Sie unterhielten sich leise an einem Tisch für zwei und aßen ihre Croissants.
Sebastian Kline und Hannelore Fuchs hatten in einem Zimmer übernachtet, obwohl die Abteilungssekretärin der in München ansässigen, einflussreichen ökumenischen Umweltbewegung CEM zwei Einzelzimmer gebucht hatte. Kline und Fuchs waren der Meinung, dass das Privatleben zweier erwachsener Menschen ihren Arbeitgeber nichts anging. Und an diesem Tag würde ihre Arbeit ohnehin erst später beginnen.
Drei Etagen weiter oben waren inzwischen zwei junge Männer mit gefälschter Magnetkarte in ihr Zimmer eingedrungen. Einer stand am Türspion Wache, der andere durchwühlte die
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