Ewige Nacht
Fahrer verschwunden war, um die SIM-Karte zu kaufen. Die alten verzierten Häuser ringsum waren gepflegt, die ordentlichen Vorgärten sorgten für das passende Grün.
Ralf nahm seinen verkratzten und mit Klebeband geflickten Kommunikator aus der Tasche, klappte ihn auf und begann, die kleinen Tasten zu drücken. Noora hätte gern mit ihm gesprochen, aber sie sah ihm an, dass er sich konzentrieren wollte.
Noora dachte über das nach, was Ralf gerade gesagt hatte. In vertraulichem und warmem Ton hatte er von den »alten Bärten« gesprochen. Normalerweise rührte er extrem selten an der Vergangenheit. Noora konnte sich nicht beherrschen, sie musste ihn danach fragen:
»Was hast du gerade mit den ›alten Bärten‹ gemeint?«
»Die Kämpfer der Roten Armee Fraktion, die als Vorhut den Massen den Weg gebahnt haben.«
»Ich würde die Terroristen von damals nicht mit den Aktivisten von heute gleichsetzen.«
Ralf lächelte. »Man braucht sie nicht gleichzusetzen. Hauptsache, sie kämpfen gegen die gleichen Dinge. Nur die Namen haben sich geändert. Damals war vom Großkapital die Rede, heute sprechen wir von multinationalen Konzernen …«
»Hast du eine … persönliche Connection zu ihnen?«
Ralf starrte aus dem Fenster und sagte nach langem Schweigen: »Andreas hat sich seinen Namen in den Geschichtsbüchern verdient, Ulrike nicht.«
Noora brauchte eine Weile, bis sie begriff, von wem Ralf sprach.
»Man müsste eigentlich von der Baader-Ensslin-Bande sprechen«, fuhr Ralf leise fort, den Blick noch immer in die Ferne gerichtet. »Gudrun Ensslin war die eigentliche Partnerin von Andreas. Die wahre Visionärin der Gruppe.«
Noora schluckte. »Hast du … Kennst du Leute aus diesen Kreisen?«
Ralfs Blick verhärtete sich. »Ich war dreizehn, als ein großer Teil der Gruppe befreit wurde. Meine Mutter war unte r den Befreiern: Renata Kohler. Sie wäre gefasst worden, aber sie beging Selbstmord. Am 5. Juni 1972. Mein Leben teilt sich in die Zeit davor und danach. Innerhalb eines Augenblicks hat sich alles verändert.«
Noora wartete darauf, dass Ralf weitersprach.
»Mein Vater wusste nicht, dass meine Mutter zur RAF gehörte. Es war ein entsetzlicher Schock für ihn. Eine Schande. Wir zogen nach Südafrika zu meinem Onkel.«
Ralf hatte schon früher von seiner Kindheit in Deutschland und Afrika erzählt, aber sehr wenig von seinen Eltern und nie vom Tod seiner Mutter.
Gerade als Noora nachfragen wollte, tauchte der Fahrer auf und setzte sich ans Steuer. Er reichte Ralf zwei Prepaid-Packungen. Eine davon öffnete Ralf sofort.
Plötzlich stellte sich alles in Nooras Augen ganz anders dar. Die Zielstrebigkeit und Skrupellosigkeit der G1, ihre Professionalität und Systematik.
Die Geschichte von Baader-Meinhof hatte Noora schon in der Schule fasziniert, aber erst in Deutschland hatte sie begriffen, was für eine tiefe Spur diese Vereinigung in der deutschen Gesellschaft hinterlassen hatte. Die Extremisten hatten gegen die »Auschwitz-Generation«, die es durch den industriellen Aufschwung nach dem Krieg zu Wohlstand gebracht hatte, rebelliert und hatten dadurch selbst unter weniger radikalen Deutschen Sympathisanten gehabt, obwohl sie ihre Ziele nicht gewaltfrei durchsetzten. Der soziale Frieden war gefährdet gewesen, die RAF hatte Anhänger aus vielen Bereichen der Gesellschaft.
Eine Erklärung hatte Noora gehört, und an der konnte sogar etwas dran sein: Viele Deutsche, die damals mittleren Alters waren, hatten in jungen Jahren nicht gegen den Nationalsozialismus aufbegehrt. Diejenigen, die sich der Roten Armee Fraktion anschlossen oder sie insgeheim billigten, sahen in der radikalen Organisation vielleicht unbewusst eine Möglichkeit, sich selbst zu beweisen, dass sie im Kampf gegen den Nationalsozialismus ihr Leben riskiert hätten – sie kämpften gewissermaßen eine Generation zu spät gegen Hitler. Hätten die Ideologen der Roten Armee Fraktion eine etwas gemäßigtere Gangart gewählt und ihre Taktik modifiziert, hätten sie viel erreichen können.
Über vergleichbare Differenzen in der politischen und taktischen Ausrichtung wurde auch am äußersten Rand der heutigen Aktivistenbewegungen diskutiert. Viele von Nooras Bekannten waren mit der Geschichte der RAF vertraut, und ständig kursierten Gerüchte über Kontakte von Mitgliedern militanter Gruppierungen zu Veteranen des Links-Terrorismus. Allerdings schwieg man darüber lieber, denn der Kern der Protestbewegung bestand aus harmlosen
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