Ewige Nacht
Bevormundung und Hochachtung.
»Warum willst du ihn von dort wegholen?«, fragte Noora.
»Sie werden ihn nicht in Ruhe lassen, wenn das hier vorbei ist«, sagte Ralf leise.
Die Straße schlängelte sich durch ein Tal, ringsum ragten die Buchen und Eichen des Taunus auf. Sie waren die gut fünfhundert Kilometer von Lübeck in knapp fünf Stunden gefahren. Jetzt führte die Straße durch ein Dorf.
»Halt am Marktplatz an und kauf im ProMarkt eine neue SIM-Karte«, sagte Ralf zu dem Fahrer des Wagens, den Noora zum ersten Mal hinter dem Zaun des Hafengeländes von Travemünde gesehen hatte. »Wir warten im Wagen.«
Ralf hatte Nooras finnische SIM-Karte in der Mitte durchgebrochen und die Teile bei Hannover aus dem Autofenster geworfen.
Es war 10.50 Uhr. Noora bemerkte, wie jemand aus dem Auto neben ihnen in ihre Richtung blickte.
Sie wurden gesucht.
Zu ihrer Überraschung empfand sie das nicht mehr als beängstigend, vielmehr stärkte es ihre Entschlossenheit. Was ihr mehr zu schaffen machte, war, dass ihr Ralf noch immer nicht alles erzählt hatte. Was musste sie tun, um sein hundertprozentiges Vertrauen zu genießen? Oder musste sie die Frage anders stellen: Was stand noch bevor, wenn er nach allem, was bislang passiert war, noch immer nicht über alles mit ihr reden konnte?
Anfangs hatte sich Noora noch wegen des finnischen Jungen Sorgen gemacht, aber schließlich hatte sie Ralf geglaubt, weil das am einfachsten war: Der Junge würde ohne Schaden davonkommen. Wahrscheinlich war er längst in Lübeck untersucht worden.
Der Fahrer hielt am Rand des wenig belebten Marktplatzes und ging in das Geschäft, um die SIM-Karte zu kaufen.
»Der Fahrer des Opels da drüben hat uns merkwürdig lang angesehen«, sagte Noora.
Ralf lächelte, zum ersten Mal seit langer Zeit. »Ich muss dich enttäuschen. Wir sind nur zwei Namen unter Tausenden von Gesuchten im Informationssystem der deutschen Polizei und im SIS.«
Noora wusste, dass Ralf Recht hatte, wieder einmal. Im Schengen Information System, dem gemeinsamen Verbrechensinformationssystem der EU-Staaten, gab es Millionen Namen. Solange niemand ihre Passnummern in den Computer eingab, hatten sie kein Problem.
»Unsere Fotos werden nicht die Wände von Banken und Postämtern zieren, wie einst die der alten Bärte«, sagte Ralf. »Sie haben die Wohnung in Göttingen auf den Kopf gestellt, aber sie werden uns nicht jagen. Solange wir uns der Polizei nicht aufdrängen, können wir leben wie zuvor. Vor allem wenn wir in ein paar Stunden aus Deutschland verschwinden.«
Noora merkte, wie Ralfs Gesprächigkeit sie beruhigte.
»Wohin fahren wir denn?«, fragte sie.
»Nach Rom. Die Maschine geht um halb vier von Frankfurt.«
»In den Vatikan?«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Ralf scharf.
»Du hast vom Vatikan und vom Kongo gesprochen.«
Ralf sah nachdenklich vor sich hin, erwiderte aber nichts.
Heidi machte sich in Schnellschrift Notizen. Theo Denk diktierte ihr gehorsam sein Geburtsdatum und antwortete auch auf andere persönliche Fragen. Heidi hatte das Gefühl, dass er selten Besuch bekam und schon deshalb gern redete. Sie hatten angefangen, sich zu duzen, und bisweilen erschien sogar ein leichtes Lächeln auf Theos dünnen Lippen.
»Hast du Geschwister?«
»Einen Bruder.«
Heidi bemühte sich um einen möglichst natürlichen Tonfall. »Habt ihr Kontakt?«
»Selbstverständlich.«
»Kommt er oft hierher?«
Heidi sah das Misstrauen in Theos Augen und bereute ihre Frage.
»Warum fragst du nach meinem Bruder? Wer bist du?«
Bevor Heidi reagieren konnte, riss Theo ihre Handtasche an sich. Sie sprang auf, aber Theo sprang flink hinter den Tisch und wühlte dabei in der Tasche.
Nach wenigen Sekunden hatte er Heidis Dienstwaffe in der Hand.
»Wissenschaftlerin?«, flüsterte Theo heiser. »Ralf hat mich gewarnt …«
»Gib sie mir!«
Theo entsicherte die Waffe und richtete sie direkt auf Heidis Gesicht. Sie starrte in seine funkelnden Augen hinter dem schwarzen Loch des Laufs.
»Ihr habt Ralf geschnappt«, zischte Theo. »Du bist gekommen, damit ihr auch mich bekommt … Das Haus ist umzingelt, was?«
»Wir wissen überhaupt nichts von deinem Bruder …«
»Alles ist aus«, keuchte Theo. Die Hand, mit der er die Waffe umklammerte, zitterte. Der Zeigefinger lag auf dem Abzug.
Heidi spannte die Muskeln an, um zur Seite zu springen.
Auf einmal führte Theo den Lauf unter sein Kinn und drückte ab.
19
Noora sah ungeduldig auf das Geschäft, in das der
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