Ewige Nacht
Koffer und die beiden Aktentaschen.
»Sie kommen«, sagte der Mann, der Wache hielt, und zog sich hinter den Kleiderschrank zurück. Sein Kollege verschwand im Bad.
Die Tür ging auf, und das lebhaft plaudernde Paar trat ein. Sobald die beiden die Tür hinter sich geschlossen hatten, kamen die Männer mit gezogenen Waffen zum Vorschein.
»Leise!«, sagte einer von ihnen auf Deutsch. »Aufs Bett!«
Fünf Minuten später lagen Kline und Fuchs gefesselt auf dem Bett, die Münder mit Isolierband verklebt. Ein Angreifer nahm ihnen die Papiere und einige Dokumente ab und verstaute sie in seiner Aktentasche, dann hängte e r das Schild B ITTE NICHT STÖREN an die Tür und verschwand.
Sein Kollege nahm im Sessel vor dem Fernseher Platz und versorgte sich mit Saft und einem Mars-Riegel aus der Minibar. Weiteren Proviant hatte er in seiner Umhängetasche, denn bis zum Abend würde er Hunger bekommen.
Das private Pflegeheim Graubach lag östlich von Wetzlar an der Lahn, umschlossen von den Höhenzügen des Taunus. Das hundert Jahre alte Gebäude gehörte nicht gerade zu den anmutigsten, die Heidi Klötz bislang gesehen hatte, und sie hatte im Rahmen ihrer Arbeit schon alle möglichen Orte zu Gesicht bekommen.
Obwohl das parkartige Grundstück zu einem Hotel der Spitzenklasse gepasst hätte und an dem dreistöckigen, aus Ziegel und Naturstein gemauerten Haupthaus an sich nichts auszusetzen war, ließ die Atmosphäre im Inneren des Gebäudes Heidi auf der Hut sein.
Sie ging einen langen, kahlen Korridor entlang, der stark nach Reinigungsmittel roch. Das graue Tageslicht, das durch die hohen Fenster fiel, unterstrich die beklemmende Atmosphäre. Mit ihrer steinernen Miene erinnerte die 60-jährige Schwester, die Heidi begleitete, eher an eine Gefängniswärterin. Die Gitter an den Fenstern verstärkten den Eindruck.
»Herr Denk bekommt starke Medikamente«, sagte die Schwester mit misstrauischem Seitenblick auf Heidi Klötz.
Heidi rückte ihre Brille zurecht. Nur der Oberarzt wusste, dass sie Polizistin war, die Schwester war nicht informiert. »Ist er gewalttätig?«
»Nein. Aber er leidet unter starken Halluzinationen. Er ist unberechenbar.«
Sie blieben vor einer grauen Tür stehen. Die Schwester klopfte energisch an und öffnete, ohne eine Antwort abzuwarten. Die Einrichtung des großen Zimmers überraschte Heidi: Kreuze, Kruzifixe, Marienstatuen, Plakate und Bilder mit Darstellungen unterschiedlichster religiöser Figuren. All das wurde von einem fast die gesamte Wand einnehmenden, an ein Altarbild erinnernden Poster mit dem gekreuzigten Jesus beherrscht.
Vom Bett fuhr ein Mann auf, der mit seinem Bart und seinem lodernden Blick der Jesusdarstellung so ähnlich war, dass es einen schauderte.
»Wer sind Sie?«, fragte Theo Denk. Sein ganzes Wesen strahlte Rastlosigkeit und Unsicherheit aus.
»Ich bin Claudia Meyer«, sagte Heidi und sah Theo in die Augen, obwohl es ihr wegen seines stechenden Blickes schwer fiel. »Ich schreibe an einer Doktorarbeit über Schizophrenie und suche nach passenden Interviewpartnern für meine Studie. Dürfte ich Sie ein paar Minuten belästigen?«
»Jetzt?« Theo blickte sich verwirrt um und nahm dann das Kleiderbündel vom Stuhl. Seine Arglosigkeit war herzzerreißend.
Die Schwester ging und machte die Tür hinter sich zu. Heidi setzte sich und nahm Notizblock und Stift aus ihrer Handtasche. In der Tasche befand sich auch ihre Dienstwaffe, aber wenn sie Theo so vor sich sah, kam es ihr sinnlos vor, sie mitgeschleppt zu haben.
»Ein beeindruckendes Bild«, sagte sie mit einer Kopfbewegung zum dem Jesus-Poster.
»Das ist die Kreuzabnahme Jesu von van der Weyden«, sagte Theo und begann mit einem Monolog über die Geschichte des Werkes.
Heidis Blick wanderte im Zimmer umher und traf auf eine seltsame Puppe, die in eine Kutte gehüllt schlaff auf dem Fußboden an der Wand lag. Als Kopf war ihr ein ausgeschnittenes Porträt des Papstes angeklebt worden. Erst nachdem sie die Puppe einige Sekunden lang betrachtet hatte, bemerkte Heidi, dass deren Brust mit nadelähnlichen Hölzchen durchbohrt war.
Der Voodoo-Papst wirkte so widernatürlich, dass Heidi, was Theo betraf, auf alles gefasst war.
W ETZLAR 9, las Noora auf dem Schild. Sie war aufgeregt, Theo zu begegnen. Beim letzten Mal war er zu unruhig gewesen, um sich zu unterhalten. Ralfs Verhalten gegenüber seinem jüngeren Bruder war von eigentümlichem Eifer geprägt – eine Mischung aus übertriebenem Schutz,
Weitere Kostenlose Bücher