Ewige Nacht
Bürgerorganisationen, deren Stigmatisierung fatal für das Ansehen und die Zukunft der Bewegung gewesen wäre.
Für Noora waren diese Gerüchte jetzt Tatsachen geworden. Widersprüchliche Gedanken schossen ihr durch den Kopf, es schien unmöglich, sie zu ordnen. Denn auch wenn das blutige Handeln der RAF zu verurteilen war, so hatte sie immerhin gehandelt und ihre Spuren in der Geschichte hinterlassen. Die damaligen Aktivisten waren fanatisch, skrupellos und professionell gewesen – eine Kombination, die Noora faszinierte.
Konnte es sein, fragte sie sich, dass sie von den Ideen der Globalisierungsgegner aus den gleichen Gründen fasziniert war wie die Menschen damals von der RAF? Wussten nicht sogar die dickhäutigsten Mitglieder der Konsumgesellschaft, dass sie die Natur schädigten und die Armen in der Dritten Welt ausbeuteten? Waren sie deshalb bereit, auch Aktivisten zu unterstützen oder die zu verstehen, die zu radikaleren Maßnahmen griffen?
Ralf setzte eine der neuen SIM-Karten in seinen Kommunikator ein und begann Nachrichten zu verschicken, während der Fahrer wieder den Weg nach Wetzlar einschlug.
Renata Kohlers Schicksal ging Noora nicht aus dem Sinn. Sie betrachtete den konzentriert arbeitenden Ralf plötzlich noch einmal mit ganz anderen Augen: mit noch mehr Respekt, noch mehr Mitleid, noch mehr Vertrauen. Was hat er in seinem Leben wohl schon alles durchgemacht?, dachte sie neidisch. Immer heftiger brannte in ihr die Neugier auf Ralf, auf Theo und auf das laufende Vorhaben.
Sie fuhren über die Lahn und bogen in die Zufahrtsstraße zum Pflegeheim ein. Ralf schaltete den Kommunikator aus.
Heidi sah sofort den Zorn und die Erschütterung auf dem Gesicht des Oberarztes. Sie standen in dessen hohem, eichenholzgetäfeltem Zimmer zwischen schweren, alten Möbeln.
»Was ist passiert?«, fragte der Oberarzt.
Heidi war noch immer nicht in der Lage, das Zittern ihrer Hände zu kaschieren. »Ich konnte nichts tun …«
Plötzlich heftete sich ihr Blick auf den Mann, der draußen aus einem Wagen stieg. Sie hatte ein einziges Bild von Ralf Denk gesehen, und das genügte.
»Den Kittel«, sagte sie zum Oberarzt und streckte die Hand aus, wobei sie den Blick auf den Mann im Hof gerichtet hielt.
»Was …«
»Geben Sie mir Ihren Kittel!« Heidi griff nach dem weißen Kittel und riss ihn dem Oberarzt förmlich vom Leib. »Niemand darf uns stören.«
Heidi ging auf den Gang und zog sich dabei den Arztkittel über. Sie knöpfte ihn zur Hälfte zu und beschleunigte ihre Schritte. Sie hatte sich einigermaßen gefangen, und ihre Aufmerksamkeit war zu hundert Prozent auf die neue Situation gerichtet.
Die Eingangshalle war leer, hinter dem Empfangsschalter stand keine Schwester. Ralf kam zur Eingangstür herein.
»Herr Denk«, sagte Heidi und musste ihre ernste Miene nicht spielen. »Es tut mir sehr leid, aber ich habe eine traurige Nachricht für Sie.« Sie wies mit der Hand auf ein leeres Zimmer. »Unterhalten wir uns dort.«
Noora stieg aus dem Wagen, um sich die Beine zu vertreten. Sie wollte sich Ralf nicht aufdrängen und gleich mit hineingehen, denn es war klar, dass er zunächst unter vier Augen mit seinem Bruder reden wollte.
Ein Großteil der Fassade des Hauptgebäudes von Graubach war mit Efeu bewachsen. Noora bemerkte, dass der neben ihnen geparkte kleine Mercedes in Belgien zugelassen war. Der kleine Aufkleber rechts neben dem Nummernschild fesselte ihre Aufmerksamkeit. An irgendetwas erinnerte er sie.
Sie trat näher heran. Der rechteckige Aufkleber war der gleiche wie am Auto von Timo Nortamo auf dem Schiff.
Noora warf einen Blick auf die dunklen Fenster und setzte sich wieder in den Wagen. »Schau dir mal den Aufkleber neben dem Nummernschild des belgischen Autos dort an«, sagte sie zu dem Fahrer. »Weißt du, was das ist? Haben alle belgischen Autos so was?«
»Ich habe so ein Zeichen noch nie gesehen. Was ist damit?«
Noora stieg erneut aus. Jemand war aus Belgien gekommen, um einen Bewohner des Pflegeheims zu sehen, überlegte sie. Jemand, der das gleiche Zeichen am Auto hatte wie dieser Timo Nortamo auf dem Schiff. Natürlich konnte das der pure Zufall sein, womöglich war sie genauso paranoid wie Theo im Innern des Gebäudes, aber Ralf sollte Bescheid wissen.
Sie ging zum Haupteingang und betrat die kühle, halbdunkle Eingangshalle. Links war ein Schalter, hinter dem eine Schwester hektisch auf dem Computer schrieb. Rechts befand sich ein Zimmer, dessen Tür einen Spalt
Weitere Kostenlose Bücher