Ewige Nacht
sich noch immer nicht. Das war sonderbar.
»Wen versuchst du die ganze Zeit anzurufen?«, wollte Aaro wissen. »Hat das mit dem zu tun, was auf dem Schiff passiert ist?«
»Nein.«
Timo fragte sich, wie viel Aaro über di e Hintergründe des Schiffsattentates ahnen konnte. An welche Ereignisse der letzten Tage konnte er sich überhaupt noch erinnern?
»Erinnerst du dich daran, wie wir mit Mama darüber gesprochen haben, Ekis Boot auszuleihen?« Kaum hatte er den Satz ausgesprochen, bereute ihn Timo auch schon. Die ausgefallene Bootstour wäre besser in Vergessenheit geraten. So wurde die Liste der ausgefallenen Dinge wieder ein Stück länger. Irgendwo im Schuppen lagen immer noch die inzwischen grau gewordenen Bretter, aus denen Timo ursprünglich einen Sandkasten für Aaro machen wollte. Inzwischen brauchte Aaro keinen Sandkasten mehr. Timo kam ein lebendiges Bild des vierjährigen Jungen im Schnee-und Schmutzanzug in den Sinn, dessen ständiges An-und Ausziehen ihn schon die wenigen Male, die er an den Wochenenden dazu kam, mit ihm ins Freie zu gehen, genervt hatte. Soile hatte an ihrer Doktorarbeit geschrieben und hatte mindestens ebenso viel zu tun wie er bei der SiPo. All jene Jahre lagen in tiefem Nebel.
»Ich kann mich erinnern«, sagte Aaro. »Auch daran, dass der Geldtransporter ausgeraubt wurde. Und dass du mir verboten hast, danach zu fragen.«
Timo schwieg und wartete. Der Porsche, der hinter ihm aufgetaucht war, ließ die Lichthupe aufflammen, und Timo wechselte auf die rechte Spur.
»Hat die Sache auf dem Schiff … damit zu tun?«, fragte Aaro vorsichtig.
Timo überlegte sich die Antwort genau. Er wollte nicht lügen. Aber eine zustimmende Antwort würde Aaro noch mehr in Zusammenhänge hineinziehen, aus denen er das Kind heraushalten wollte, was immer auch geschah.
Andererseits: Hatte Aaro nicht das Recht, wenigstens in groben Zügen zu erfahren, was passiert war? Würde die Wahrheit nicht den psychischen Schaden etwas verringern, den ein solches Erlebnis bewirken konnte?
Natürlich nicht. Er hatte die Pflicht, Aaro von der kranken Welt der Erwachsenen fern zu halten und dafür zu sorgen, dass der Junge trotz des Berufs seines Vaters eine Kindheit leben durfte, die nicht von Verbrechen und Gewalt geprägt war. Oder konstruierte man so eine verlogene Kulisse? Konnte man ein Kind in einer isolierten heilen Welt großziehen, wie Soile oft fragte?
Timo räusperte sich und setzte den Blinker, um in Richtung Eindhoven abzufahren. »Die Vorfälle auf dem Schiff waren sehr außergewöhnlich. Meine deutschen Kollegen klären die Sache gerade auf …«
»Bei dem Überfall auf den Geldtransporter ist der Fahrer ums Leben gekommen«, fügte Aaro ernst und blass hinzu. »Die sind ziemlich skrupellos …«
»Die Sache wird aufgeklärt. Die Täter kommen vor Gericht und werden verurteilt. Punkt«, sagte Timo in einem Ton, der keinen Spielraum für weitere Diskussionen ließ. Aaro hatte seinen Eigensinn und seine Halsstarrigkeit geerbt. Solange nicht alles vollständig erklärt war, insistierte der Junge bis zum Überdruss.
Timo versuchte wieder, Heidi Klötz anzurufen, aber die ging noch immer nicht dran. Er tippte die Nummer von TERA ein und fragte den Belgier Picard aus seiner Abteilung nach der Kollegin.
»Hast du es noch nicht gehört?«, sagte Picard. »Die Klötz ist zu Theo Denk gefahren. Dabei ist etwas passiert … Es gab einen Schuss, und Theo Denk wurde tot in seinem Zimmer gefunden.«
Timo drückte das Telefon ans Ohr und sah im Rückspiegel Aaros neugieriges Gesicht. Rasch richtete Timo den Blick wieder auf die Straße.
»Ralf und die finnische Frau sind aufgetaucht, und die Klötz ist zusammen mit ihnen verschwunden.«
»Was meinst du damit?«
»Das Personal des Pflegeheims sagt, die Klötz ist mit den beiden weggefahren. Wir haben sofort angefangen, nach Denk zu suchen, nachdem wir von dem Vorfall gehört hatten, aber sie haben mindestens eine Stunde Vorsprung. Die Information ging über die örtliche Polizei und über Wiesbaden. Wann wirst du hier sein?«
Timo sah auf die Uhr und versuchte, dabei so zu wirken, als wäre nichts geschehen.
»Gegen sechs.«
»Wie geht es deinem Sohn?«
Die aufrichtige Sorge des Belgiers verursachte einen Kloß in Timos Hals. »Er ist okay«, antwortete er heiser. »Ist in der Wohnung von Denk und Uusitalo etwas Interessantes gefunden worden?«
»Uns ist jedenfalls aus Göttingen nichts mitgeteilt worden.«
»Ich komme, sobald ich kann«,
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