Ewige Schreie
Küster - das Verbrechen schob man dem Geist in die Schuhe, und es war während der Messe passiert - hatte sich niemand mehr getraut, die Kirche zu betreten. Der Pfarrer hatte sämtliche christlichen Symbole entfernen lassen, das Kreuz wurde vom Turm montiert, und man baute ein neues Gotteshaus. Dies allerdings am anderen Ende des Ortes.
So erzählte es die Überlieferung, und McMullogh kannte die Geschichte von seinen Stammtisch-Besuchen.
Den Friedhof selbst hatte er schon mehrere Male betreten. Er gehörte zu den wenigen Zugezogenen, und Angst vor dem verwilderten Gelände hatte er nie gehabt. Im Gegenteil, dort konnte man herrlich und in Ruhe Spazierengehen, denn andere Menschen begegneten einem kaum. Ausgerechnet hier wollte Gladys begraben werden.
Eine Gänsehaut lief über den Rücken des Mannes, während er daran dachte, und die Gänsehaut blieb auch, als er das alte, hohe, zweiflügelige Eisentor im Licht der Scheinwerfer sah, das den Eingang des Friedhofs markierte.
Der rechte Flügel stand offen!
James McMullogh stieß pfeifend den Atem aus, als er dies erkannte. Er schüttelte den Kopf, damit hätte er nicht gerechnet, und ein böser Verdacht keimte in seinem Innern hoch.
Sollte er vielleicht nicht der einzige sein, der dem Friedhof in dieser Nacht oder an diesem Abend einen Besuch abstattete? War das ganze makabre Spiel vielleicht eine Falle für ihn, das irgendein unbekannter Regisseur inszeniert hatte?
Er stoppte und wollte den Motor schon ausstellen, als er es sich überlegte, den Wagen drehte und so hinstellte, daß er mit dem Heck zum Tor wies.
Dann stieg er aus.
Ein wenig Wind war aufgekommen. Abendwind, der von den Bergen in das weite Tal hineinfuhr und Kühlung nach dem heißen Tag brachte. Still war es nicht. Überall in den Büschen war ein geheimnisvolles Wispern und Zirpen zu hören. Keine menschlichen Laute oder Geräusche, die Tiere der Nacht stimmten ihr Abendkonzert an. Grillen und andere Insekten zirpten, und ihr Konzert - tagsüber kaum zu vernehmen - durchbrach die Stille der Nacht. Der Boden war weich. James' Schritte klangen gedämpft, als er um seinen Wagen herumschritt und auf den offenstehenden Flügel des Tors zuschritt. Daneben blieb er stehen. Sein Blick glitt über den Hauptweg, der im Laufe der Jahre so mit Unkraut zugewuchert war, daß James den Untergrund kaum erkennen konnte.
Verdächtige Personen konnte er nicht entdecken, so sehr er sich auch bemühte. Demnach blieb ihm nichts anderes übrig, als die Leiche zu holen.
Er öffnete die Heckklappe, schaute zu, wie sie in die Höhe schwang und beugte sich in den Wagen.
Es war zwar dunkel, aber im Wageninnern brannte die winzige Deckenlampe. Ihr Schein reichte aus, um erkennen zu können, daß sich das Gesicht der Toten verändert hatte. Noch schlimmer war es geworden, die Hitze hatte ihr sehr zu schaffen gemacht. Es kostete den Mann Überwindung, die Tote auf seine Arme zu nehmen. Mit dem Kinn drückte er die Klappe zu, die schnackend wieder in das Schloß zurückfiel.
Zum zweitenmal ging er den Weg auf das Tor zu. Diesmal allerdings beladen mit einer Leiche, deren Arme rechts und links des Körpers nach unten hingen und wie zwei Zeiger pendelten.
Es wurde für James McMullogh ein schwerer, makabrer Gang. Er durfte auch nicht darüber nachdenken, was er da vorhatte. Gedanken, die sich um dieses Thema drehten, hatte er ausgeschaltet und weit von sich gewiesen.
Das Schicksal hatte brutal in sein Leben eingegriffen und einen einschneidenden Schnitt getan.
Er dachte kurz daran, wieso es kam, daß dieses alte Tor offenstand, doch sich genauer damit zu beschäftigen, kam ihm nicht in den Sinn. Er wollte seine Aufgabe endlieh hinter sich bringen. Dabei wäre es besser gewesen, wenn er sich um das offenstehende Tor mehr Gedanken gemacht hätte.
So aber lief er mit seiner toten Frau dem Grauen direkt in die Arme. Über 200 Jahre war der Friedhof alt. Und seit genau 200 Jahren gehörte er zu den Geisterplätzen, die man lieber nicht aufsuchte. Die Atmosphäre dieses alten, verwilderten Totenackers war in der Tat seltsam. Die Luft schien mit Schattenwesen gefüllt zu sein, die beim Atmen in den Körper eindrangen, in das Blut gerieten und ein ungutes Gefühl erzeugten.
Man betrat einfach eine andere Welt. Die Welt des Moders, der Vergänglichkeit, des Todes…
Überall schien sein Sinnbild zu lauern. Der grinsende Sensenmann, der mit seiner Waffe hinter jedem Busch oder Baum stand, um zuzuschlagen, falls sich ihm
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