Ewige Schreie
Teil waren es Brennesseln und Dornengewächse, die uns ein Weiterkommen sehr erschwerten. Mit den Füßen mußte ich zutreten, damit wir uns einen Weg durch das Gebüsch bahnen konnten.
Helen schüttelte den Kopf. »Diese verfluchten Schreie!« knirschte sie.
»Die machen mich noch verrückt und treiben mich zum Wahnsinn. Wenn sie doch aufhören würden!«
»Wir schaffen das schon«, erwiderte ich zuversichtlich und konnte bereits die nächsten beiden Grabsteine erkennen. Diesmal lagen sie hintereinander, und auf dem hinteren Grabstein war das Gesicht einer Frau zu erkennen.
Nein, nicht einer Frau. Das eines Kindes!
Ich preßte die Lippen zusammen. Auch Helen hatte das Kindergesicht gesehen, und sie schluchzte auf.
»Kennen Sie die Kleine?« fragte ich.
»Ja, ich habe von ihr gehört. Sie war erst acht. Es muß vor mehr als 30 Jahren geschehen sein, die Leute erzählen sich noch heute von ihrem Tod. Sie ist damals so spurlos verschwunden wie alle, die auf diesem Friedhof liegen. Hier finden wir tatsächlich Zeugen der letzten beiden Jahrhunderte.«
Ich hielt das Kreuz schon in der Hand.
»Auch das Kind?« fragte Helen.
Mein Nicken war Antwort genug.
Helen preßte ihre Hände gegen das Gesicht. Sie wandte sich ab, weil sie nicht hinschauen konnte, während ich einer traurigen und makabren Pflicht nachkam.
Ein wächsernes Kindergesicht mit weit aufgerissenem Mund starrte mich an. So mußte die Kleine auch ausgesehen haben, als sie gestorben war. Der Himmel mochte mir verzeihen, als ich das tat, was ich tun mußte. Der helle monotone Kinderschrei brach ab. Auch das Gesicht verschwand vom Grabstein, er sah wieder wie normal aus. Die Frau mußte ich ebenfalls erlösen. Als ihr Gesicht verschwand, glaubte ich, so etwas wie ein befreites und letztes Lächeln auf den spröden Leichenlippen zu sehen.
Vielleicht hatte ich es mir auch nur eingebildet, denn meine Nerven waren seit diesen Erlebnissen auch nicht mehr die besten. Ich war hier in einen Horror hineingeraten, für den ich wirklich keinen Namen mehr wußte.
In der Nähe, nur durch eine Brombeerhecke getrennt, lagen drei weitere Gräber. Die Hecke war schon zum Teil nach unten getrampelt worden, dort konnte ich hergehen und kam einer weiteren traurigen Pflicht nach. Helen wartete auf mich. Sie stand irgendwie schutzlos da, jedenfalls hatte ich das Gefühl. Sie mußte wirklich mit ihren Nerven am Ende sein, denn sie hatte an diesem Tage den Tod ihrer Eltern noch einmal nachvollziehen können. Hoffentlich kam sie darüber hinweg. Ich nahm mir vor, meinem Vater Bescheid zu geben, damit er hin und wieder ein Auge auf Helen warf.
»Erledigt?« fragte sie mich, als ich wieder auf sie zukam.
»Ja.«
»Den Pfarrer haben Sie nicht gefunden, John?«
»Nein, er lag nicht hier, wenn Sie das meinen. Ich glaube jedoch, daß er sich irgendwie hätte verständlich gemacht, falls er sich in der Nähe aufhält.«
»Ja, das habe ich auch gehofft.«
Ich legte einen Arm um ihre Schultern. »So, wir gehen jetzt zurück und lassen die Gräber erst einmal in Ruhe.«
»Warum?«
»Weil ich sehen möchte, wo sich der Pfarrer aufhält. Ganz einfach. Wahrscheinlich hat er den ganzen Weg inspiziert. Es ist immerhin eine Möglichkeit.«
»Warum sollte er das getan haben?«
Ich hob die Schultern und räumte gleichzeitig Zweige zur Seite, damit Helen daran vorbeischlüpfen konnte. »Vielleicht hat er ihn gesehen, Sam Davies.«
»Meinen Sie?«
»Alles ist möglich.«
Die Schreie in unserer unmittelbaren Umgebung waren durch unser Mitwirken verstummt. Eine direkte Wohltat, denn wir hörten schon wieder unsere Schritte.
Mit dem Handrücken wischte ich den Schweiß von meiner Stirn. Auf der Haut blieb ein Fettfilm zurück. Der Wind war noch warm, die Schwüle hatte zugenommen, und als wir den Weg betraten, da wehte er uns einen schweren Blütenduft entgegen, der irgendwie süßlich war und zu dieser Atmosphäre paßte. Ich spürte auch etwas anderes. Es war wie ein Hauch. Allerdings kein Windhauch, sondern der einer Gefahr.
Wenn man so lange in einem harten Job gearbeitet hat wie ich, dann bekommt man dafür einen Riecher. So einen sechsten Sinn. Es lag etwas in der Luft.
Meine Hand näherte sich dem Griff der Beretta, das Kreuz hing vor meiner Brust. Helen hatte etwas bemerkt, schaute mich an und fragte:
»Haben Sie was, John?«
»Möglicherweise.«
»Und?« Das eine Wort wurde von ihr mit leicht schriller Stimme ausgestoßen.
»Ich weiß es nicht so genau, doch irgend
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