Ewiger Schlaf: Thriller
noch zwei Seiten ihres Nora-Roberts-Romans, dann schlief sie ein. Waters nahm das Taschenbuch von ihrer Brust und legte es auf den Nachttisch; dann ließ er sich in die Kissen sinken, während die Bilder dieses Nachmittags seine Gedanken überfluteten und mit zwanzig Jahre alten Erinnerungen verschmolzen. Er glaubte, Eves Kuss noch immer auf den Lippen zu spüren, so wie die Erinnerungen an Mallorys Küsse sich in sein Hirn eingebrannt hatten. Dafür gab es eine einfache Erklärung: Die Küsse der beiden Frauen waren identisch. Doch wie das möglich war, ließ sich ganz und gar nicht einfach erklären, und so lag Waters im Dunkeln und versuchte, die Fäden zu entwirren.
Es waren vor allem die intimen Details, von denen Eve gewusst hatte, die ihn beschäftigten – Dinge, die nur Mallory wissen konnte. Je länger er darüber nachdachte, desto schwerer fiel es ihm, die Erinnerungen, die Eve erwähnt hatte, von denen zu trennen, die aus seinem eigenen Unterbewusstsein nach oben drangen. Ihre unerklärlichen Worte und Taten hatten den Damm niedergerissen, den er in seinem Innern errichtet hatte, und eine Flut von Erinnerungen freigelassen, gegen die er völlig machtlos war. Und doch weigerte er sich, eine grundlegende Tatsache anzuzweifeln: dass Mallory Candler tot war. Eve Sumner mochte sich für Mallory halten; dadurch wurde dieses Hirngespinst noch längst nicht zur Wahrheit. Vielleicht wollte Eve auch nur, dass er dachte, dass sie es glaubte – und um diese Illusion zu untermauern, hatte sie die herzzerreißende Geschichte von der Vergewaltigung erzählt, die in einer bizarren Seelenwanderungs-Fantasie gipfelte. Als Wissenschaftler fand Waters es schwierig genug, die Existenz einer unsterblichen Seele zu akzeptieren, und die Vorstellung, dass Seelen frei zwischen menschlichen Körpern wandern konnten, lehnte er kurzerhand ab. Und trotz eines kurzen Flirts mit fernöstlicher Philosophie am College glaubte er nicht an die Wiedergeburt.
Welche Möglichkeiten blieben also? Psychotische Wahnvorstellungen schienen die wahrscheinlichste Erklärung zu sein. Waters vermutete, dass die Recherche von Coles Bekannten in New Orleans diese Theorie erhärten würde. Kurz schoss ihm der Gedanke an dämonische Besessenheit durch den Kopf, verflüchtigte sich aber genauso schnell wieder. Das war der Stoff, aus dem mittelalterliche Volksmärchen waren, Futter für Hollywood-Filmemacher und religiöse Fundamentalisten. Was Eve ihm beschrieben hatte, klang nicht nach einem schäbigen Satanisten-Szenario, eher nach Besessenheit einer Person durch eine andere. Soweit er sich erinnern konnte, hatte sie von zwei Persönlichkeiten gesprochen, die innerhalb einer einzigen Person lebten: eine »schlafend«, die andere »wach«. Litt sie unter einer Form von Schizophrenie? Waters wusste wenig über solche Dinge, und da es in Natchez keinen praktizierenden Psychiater gab, kannte er niemanden, an den er sich mit solchen Fragen wenden konnte.
Als Lily zu schnarchen begann, wichen seine Spekulationen wissenschaftlicher Analyse. Wenn ein vernünftiger Mann genau betrachtete, was passiert war, seit John Waters auf dem Fußballplatz Eve Sumner gesehen hatte – was würde er daraus folgern? Erstens: Eve Sumner wollte eine sexuelle Affäre. Zweitens: Sie benutzte ihr Wissen über Waters’ Vergangenheit, um sein Interesse zu erregen. Doch diese Schlussfolgerungen allein waren noch nicht weiter bemerkenswert. Die Tatsache, dass Eve ihn davon zu überzeugen versuchte, in Wirklichkeit eine tote Geliebte aus seiner Vergangenheit zu sein, komplizierte die Dinge ungemein. Wenn man davon ausging, dass Eve Sumner bei geistiger Gesundheit war, was immer noch sehr infrage stand – welches Motiv könnte sie dann haben, so etwas zu tun?
Halt dich an die Fakten, befahl er sich selbst. Was hatte Eve mit ihren Worten und Taten bewirkt? Sie hatte einen ansonsten besonnenen Mann in einen Zustand emotionalen Aufruhrs gebracht. Was konnte ihr das nützen? Wer sonst könnte davon profitieren? Waters führte zurzeit keine Geschäftsverhandlungen, bei denen die Gegenseite davon profitieren konnte, wenn er nicht bei der Sache war. Vielleicht hatte Eve ihre Kampagne nur begonnen, um sein Leben durcheinander zu bringen. Vielleicht war es ihr Ziel, ihn in eine Affäre zu verwickeln und ihn dann zu erpressen. Das schien ziemlich viel Aufwand, besonders, da er sein Vermögen vielleicht schon bald verlor, falls die Untersuchung der Umweltbehörde zu Ungunsten seiner Firma
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