Ewiger Schlaf: Thriller
abendliches Ritual variierte niemals. Er brachte Annelise ins Bett, wartete, dass Lily schlafen ging, und ging dann hinaus zu den Sklavenquartieren, um »zu kartografieren«. Sobald er sicher war, dass Lily schlief, zog er einen Mantel über, fuhr in die Pearl Street, parkte unter Bäumen und ging die verbleibenden zwei Blocks zum Eola zu Fuß.
Eines Abends jedoch änderte Lily ihr Ritual. Sie kam in die Küche, nachdem sie Annelise ins Bett gebracht hatten, und warf ihm vor, er sei in den letzten Tagen recht kühl zu ihr gewesen. Waters konnte kaum glauben, dass sie das Wort »kühl« benutzte. Er wirke schrecklich distanziert, fuhr Lily fort; sie glaube nicht, dass es nur wegen der Umweltuntersuchung sei. Er habe sie seit zehn Tagen weder umarmt noch geküsst. Waters hätte Lily beinahe darauf hingewiesen, dass sie seit sieben Wochen nicht mit ihm geschlafen hatte und dass selbst dieses eine Mal eine schmerzliche Scharade gewesen war, die sie über sich hatte ergehen lassen, damit er vor Unbefriedigtsein nicht durchdrehte. Doch er schwieg. Als er unbeholfen neben dem Kühlschrank stehen blieb, kam Lily zu ihm, legte den Kopf auf seine Schulter und sagte, sie würde jetzt heiß duschen. Waters erstarrte. Normalerweise badete Lily. »Heiß duschen« war eine ihrer seltenen Einleitungen zu Sex.
Voller Sorge, dass sie seine Furcht spürte, nahm er sie in die Arme und erklärte, er müsse die ganze Nacht arbeiten, weil er eine neue Probebohrung vorbereite. Lily warf ihm einen verletzten Blick zu, doch er gab nicht nach. Er ging hinaus zum Sklavenquartier, setzte sich und starrte ausdruckslos auf seinen Zeichentisch, während er darauf wartete, dass Lily einschlief. Er ließ seine Gedanken schweifen, und ihm wurde die Ironie seines ehelichen Sexuallebens bewusst: Solange Lily wusste, dass er mit ihr schlafen wollte, war sie zufrieden damit, keinen Sex zu haben. In dem Moment aber, als sie echte Gleichgültigkeit von seiner Seite spürte, sah sie sich gezwungen, ihn ins Bett zu ziehen.
Später an diesem Abend ging er ins Eola, in der Hoffnung, die angespannte Situation zu Hause vergessen zu können, doch es warteten nur weitere Spannungen auf ihn. Als Eve an diesem Abend »Ich liebe dich« sagte, hielt sie seinen Blick fest und wartete darauf, dass er ihre Worte erwiderte. Er tat es nicht und erkannte in ihren Augen, dass sie wütend war. Später, nachdem der Schlafmangel ihn hatte einnicken lassen, wachte er auf und sah sie im Schneidersitz am Fuß des Bettes kauern und ihn im Halbdunkel anstarren.
Bei diesem Anblick leerte sich beinahe seine Blase. In seinem noch schlaftrunkenen Zustand war er nicht sicher, ob die Frau, die ihn mit glühenden Katzenaugen ansah, Eve oder Mallory war. Er hatte Mallory zahllose Male in dieser Haltung gesehen und gehofft, nie wieder mit diesem Anblick konfrontiert zu werden. Mallory schlief nie – wenn überhaupt schlief sie kurze Zeit, während auch er schlief –, und sie wachte stets eher auf als er. Er konnte nicht zählen, wie oft er aus dem Schlummer erwacht war und sie dicht vor sich sah, auf einen Ellbogen gestützt, wobei sie ihn mit glühenden Augen unverwandt beobachtete. Das Schlimmste aber war, wenn das Zerschneiden ihrer Arme und Beine Einzug in ihre Nachtwachen hielt. Sobald Waters aufwachte, sah er sie mit glasigen Augen am Fußende des Bettes sitzen und sich mit der Spitze einer Sicherheitsnadel über die Pulsadern kratzen, wobei sie eine kleine Blutspur zurückließ. Manchmal benutzte sie nur ihre Fingernägel, manchmal auch einen Schlüssel oder ein Taschenmesser.
Aufzuwachen und Eve in der gleichen Haltung zu sehen ließ ihn unter der Bettdecke schaudern. Er versuchte sich irgendeine triviale Bemerkung einfallen zu lassen, um seine Angst zu maskieren, doch da öffneten sich schon ihre Lippen, und ihre tiefe Stimme schwebte zu ihm.
»Denkst du manchmal an unsere Babys, Johnny?«
»Was?«, fragte er und hoffte, sich verhört zu haben.
»Unsere Babys.«
Erinnerungen, die zu traumatisch waren, sich ihnen zu stellen, überfluteten sein Hirn, und seine Angst wuchs sich zu greller Panik aus. Plötzlich konnte er sich nicht mehr davon überzeugen, dass die Frau, die keinen halben Meter vor ihm saß, tatsächlich Eve Sumner war. Ihr Gesicht lag im Schatten, während in ihren Augen ein kaltes Licht brannte, und die Frage, die Eve gestellt hatte, spiegelte die größte Sorge der gebrochenen Seele Mallory Candlers wider. Während ihrer Beziehung mit Waters hatte Mallory
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