Ewiger Schlaf: Thriller
sagen, du wolltest in die Bar gehen. Aber für dich ist der Eingang an der Pearl Street am besten. Von dort kann man bis zu unserer Suite hinauf, ohne gesehen zu werden. Der Wachdienst sitzt hinten in der Lobby und wird dich wahrscheinlich gar nicht sehen. Und selbst wenn, wird er dich nicht länger als eine Sekunde anschauen, falls du gut gekleidet bist. Geh hinein und dann gleich rechts. Dort siehst du eine Treppe, die zum Zwischengeschoss führt. Geh hinauf, dann nimm den Fahrstuhl in den dritten Stock. Oben führt ein offener Gang direkt zur Tür der Suite. Von da aus solltest du schnell gehen, denn der Gang ist vom Hof und den oberen Zimmern aus einsehbar. Ich werde um 22.30 Uhr dort sein.
M.
Er legte das Einmachglas wieder ins Erdloch, behielt diesmal aber die Notiz. Sobald er zurück ins Büro kam, holte er wieder die Mappe hervor und tat, wozu ihm bisher der Mut gefehlt hatte: Er öffnete das Bündel mit Mallorys alten Briefen.
Die Handschrift stimmte genau überein.
1 Im angelsächsischen Heldenepos »Beowulf« wird vom Ungeheuer Grendel erzählt, welches keinen Lärm vertragen konnte und schreckliche Rache nahm.
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10
A ls er an diesem Abend in die Eola-Suite kam, wusste er, dass Eve eine gute Wahl getroffen hatte. Das Backsteingebäude zählte zu den Wahrzeichen der Stadt. Es nahm fast einen ganzen Häuserblock ein und war mit seinen sieben Stockwerken jahrzehntelang das höchste Gebäude der Stadt gewesen. In unmittelbarer Nähe befanden sich zwei beliebte Nachtclubs, deren Gäste häufig bis auf die Main Street standen, Drinks in der Hand, und die zum Rhythmus der Livebands tanzten, der durch die Wände wummerte. Jeden Abend waren diese Bars voller Menschen, die Waters vom Sehen kannte; dennoch fühlte er sich einigermaßen sicher, als er zu Fuß von der Pearl Street in Richtung Hotel lief, wie Mallory es ihm gesagt hatte.
Durch die Tür des ehrwürdigen Hotels einzutreten war wiederum wie eine Zeitreise, nur diesmal nicht zwanzig, sondern dreißig Jahre in die Vergangenheit. Als er noch ein kleiner Junge war, hatte sein Vater die Familie sonntags oft zum Abendessen ins Eola geführt. Bis heute erinnerte er sich genau daran, wie sie die Lobby auf dem Weg zum Restaurant durchquert hatten. Alte Männer saßen in Klubsesseln, rauchten Zigarre und spielten Dame; ein schwarzer Schuhputzer bot leise seine Dienste an, und ein Liftboy in goldbetresster Uniform stand im Aufzug, von dessen kupferner Gittertür Waters immer wieder träumte, dass er sie öffnen und schließen durfte. Noch immer konnte er seinen Vater hören, wie er bei der rothaarigen Kellnerin Krabben-Remoulade bestellte, und noch immer sah er den aufgeschnittenen gelben Sandkuchen vor sich, die Erdbeeren und die Schlagsahne, die sie zum Dessert erwarteten.
Am ersten Abend, an dem er sich mit Eve traf, war die Lobby leer bis auf einen Wachmann, der weit entfernt mit dem Rücken zur Tür saß, doch wie Eve vorhergesagt hatte, sprach er Waters nicht an. Ein dunkler Geschäftsanzug war alles, was man brauchte, um hier hereinzukommen.
Als Waters die Tür zu Suite 324 öffnete, lag Eve nackt auf dem Bett wie Marilyn Monroe; sie hatte eine große rote Schleife um ihre Taille geknotet und hielt eine Champagnerflöte in der Hand. Die Affektiertheit der ganzen Szene ließ die Anspannung weichen, die sich auf dem Weg nach oben in Waters aufgestaut hatte, und sie feierten ihre neue Bleibe mit einem wilden Exzess.
Es war ein guter Anfang für eine Woche, die böse enden sollte. Nach der ersten Nacht im Eola nahmen die Dinge einen anderen Lauf. Zu Hause benahm Lily sich Waters gegenüber anders. Ihr Tonfall wirkte gekünstelt, und manchmal ertappte er sie dabei, wie sie ihn aus den Augenwinkeln beobachtete. Er sorgte sich, dass er einen Fehler gemacht hatte – vielleicht konnte Lily Eve an ihm riechen, obwohl er jedes Mal duschte, bevor er nach Hause zurückkehrte. Und nicht alle Spuren, die seine Untreue hinterließ, waren so subtil wie Geruch. Eve war so leidenschaftlich, dass sie manchmal Kratzer auf seiner Haut hinterließ, obwohl sie sich Mühe gab, es zu vermeiden. Hätten Lily und er eine normale sexuelle Beziehung gehabt, wäre seine Untreue schon in der ersten Woche aufgeflogen. Doch wenn Lily diese Spuren der Leidenschaft schon nicht entdeckte, bemerkte sie sehr wohl die Veränderungen in seinem Verhalten.
Der Umzug ins Eola machte es erforderlich, dass sie ihre Zusammenkünfte auf die späten Abendstunden verlegten, und Waters’
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