Ewigkeit
»Ich muß morgen in Christchurch sein.« Sie sah Lanier an. Karen war nicht dumm, aber es fiel ihr schwer umzuschalten. Ihre Miene besagte, daß sie genau wußte, wie verrückt diese Realität war und wie wichtig sie sein könnte. »Vielleicht kannst du es mir erklären, nachdem du den Stein aufgesucht hast.«
»Ich werde es versuchen«, sagte Lanier.
»Ich bedauere die Trennung«, sagte der Russe ruhig.
»Sie halten den Mund!« rief Karen ihm zu. »Sie sind bloß ein verdammtes Gespenst.«
Dabei mußte Lanier lächeln. Er legte Karen seine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen und zugleich zu verhindern, noch mehr zu sagen. Die Gesten kommen leicht genug, dachte er. Warum nicht auch das Gefühl?
Sie waren gestartet, eingebettet in das frei gestaltete weiße Innere des Shuttles, und flogen hoch über der dunklen Erde. Am Himmel erblühten Sterne, wenn man über den schwarzen Horizont blickte, wo gezackte Berge aufragten. Lanier fühlte sich frei. Er war seit Jahren nicht mehr geflogen und hatte das Gefühl fast vergessen. Sobald das Shuttle seine stumpfe Nase steil aufrichtete und die Aussicht durch den transparenten Teil der Hülle kippte, wurde aus seiner Fröhlichkeit eine entgegengesetzte Furcht.
Weltraum.
Wie hübsch, einfach in der dünnen Schicht von Luft zu fliegen und größeren Dingen aus dem Wege zu gehen. Fliegen war wie eine wunderbare Art von Schlaf, über der harten Realität des Wachseins, aber unterhalb der größeren Finsternis des Todes…
Auf der anderen Seite des Gangs starrte der Russe geradeaus nach vorn, ohne sich um die Aussicht zu kümmern, als ob er das alles so oft gesehen hätte, daß es ihm weder so noch so etwas ausmachen könnte. Er schien nicht in Gedanken zu sein und sah auch nicht besorgt aus. Es ließ sich überhaupt nicht feststellen, was ihm all dies bedeutete oder wie er über das Treffen mit Korzenowski dachte… Oder über die Rückkehr zum Stein.
Wenn er Mirsky war, sollte seine Rückkehr nach Thistledown eine wahre emotionale Last bedeuten. Als er zum letztenmal den Stein betreten hatte, war es durch eine Hölle von Projektilen und Laserstrahlen gewesen, als Teil der russischen Invasionsstreitmacht, knapp vor dem Tod, oder vielleicht auch als Präludium dafür.
Lanier erkannte, daß Mirsky, falls er es war, seit jenem schicksalsträchtigen Moment bis zum Besuch des Tales die Erde nicht wiedergesehen hatte.
Der Flug war glatt und ruhig und anscheinend mühelos. Aber er minderte nicht Laniers Gefühl von Unwirklichkeit. Wenn er Mirsky ist, wo ist er inzwischen gewesen und was hat er gesehen?
12. KAPITEL
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Gaia
Das Mouseion hatte sich beträchtlich ausgedehnt in die Neapolis und das Brucheion – das Hellenische Viertel – seit alten Zeiten. Es hatte sogar einen Fuß – die Schule der Medizin – in den Aigyptischen Distrikt gesetzt. Die Gebäude der Medizinschule, das Erasistrateion, grenzten an die kleinere, weniger berühmte Bibliothek für lokale Oikoumenische Studien, das einstige Serapeion. Universität, Forschungszentrum und Bibliothek – in Wirklichkeit sieben Gebäude, die um die ursprüngliche Bibliothek herum verteilt waren – nahmen ein Areal von etwa vier Stadien Seitenlänge in der Mitte der City ein. Zwischen den älteren Gebäuden aus Marmor, Granit und Kalkstein waren neue, kastenartige Zentren aus Eisen und Glas für das Studium von Naturwissenschaft und Mathematik. Oben auf dem steilen Hügel des früheren Paneions hatte die Universität vor fünf Jahrhunderten eine riesige Sternwarte errichtet. Sie war eher ein Relikt als ein funktionierendes Zentrum astronomischer Forschung, aber ihre Großartigkeit war beeindruckend.
Rhitas Hals schmerzte vom Drehen nach hinten und vorn. Ihr Wagen rollte mit ungleichmäßigem Rhythmus über das Kopfsteinpflaster zwischen gefiederten Bäumen und majestätischen Dattelpalmen. Die Sonne tauchte im Westen unter und warf orangefarbenes Licht über die Stadt, so wie sie es an dem Tage gesehen hatte, ehe sie in den Großen Hafen einfuhr. Rauch trieb in dünnen, dunklen Schwaden von einem hohen Ziegelstapel neben einem Forschungsbau. Studenten in weißen und gelben akademischen Roben – hauptsächlich männlichen Geschlechts – begegneten ihnen unterwegs und beäugten Rhita neugierig. Sie erwiderte die Blicke offen und ruhig, obwohl sie innerlich nicht so ruhig war. Sie mochte diesen Ort nicht besonders – jetzt nicht und vielleicht niemals –, und das betrübte sie. Dies war immerhin das
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