Ewigkeit
doch diese Erkenntnis. Er rieb sich seine hohlen Wangen mit seinen langen, dünnen und immer noch kräftigen Fingern und genoß die Bitterkeit davon. Was auch immer er gewesen sein mochte, er hatte nie aufgegeben; und dies war aber nichts als das Verlangen aufzuhören.
Heineman hatte nicht aufgeben wollen. Er hatte Sterblichkeit akzeptiert, aber das Leben bis zum Ende genossen und ebenso viele Traumata überlebt wie Lanier, vielleicht sogar noch mehr. Der Geist von Lenore Carrolson war intakt. Sie hatte noch Vitalität und Zielstrebigkeit. Und Karen genoß das Leben so sehr, daß sie den Gedanken ans Sterben verdrängte und diesen Tag mittels der Technologie des Hexamons hinausschob.
Kein Wunder, daß sich seine und Karens Wege getrennt hatten. Wie Lenore war sie nicht abgestumpft durch alles, was sie gesehen hatte; und sie hatte ebenso viel gesehen wie er. Sie hatte um ihre Tochter genau so tief getrauert wie er. Kummer machte alles nur noch schwieriger, weil er mit einer unmöglichen Hoffnung gepaart war… daß sie eines Tages Andias Implantat wiedergewinnen würden. War das also seine Schuld?
Die Stimme des Raumes meldete einen Besucher am Haupteingang. Lanier stöhnte. Er hoffte, Zeit zu haben, dies alles zu verdauen, ehe er seinen Kameraden begegnete. Aber es sollte anders kommen. »Schon recht«, sagte er und ging zum Haupteingang der Suite, einer fünf Meter langen und zwei Meter breiten Stahlbrücke, die in einer Hohlkugel aus meteoritischem Kristall aufgehängt war. Ein Stück des Kristalls bewegte sich am entgegengesetzten Ende der Brücke zur Seite. Dort stand Pavel Mirsky und zeigte sein gewohntes ärgerliches Lächeln.
»Störe ich?«
»Nein«, sagte Lanier, mehr verstört durch die Normalität und Solidität des Mannes als durch sonst etwas. Warum konnte er nicht wenigstens kommen, gekleidet wie ein Gott? Ein Donnerkeil oder zwei, die in seinem Haar flimmerten?
»Ich schlafe nicht normal und bin es satt, nur nach Information zu suchen… Ich brauche Gesellschaft. Ich hoffe, daß es recht ist?«
Lanier nickte matte Zustimmung. Natürlich würde es ihm lästig sein. Sogar die unglaublichen Bibliotheken des Steins würden für ihn kindisch aussehen… oder etwa nicht?
»Ich habe mich nicht dafür entschuldigt, daß ich mich Ihnen aufgedrängt habe – oder doch?«
Lanier sagte: »Ich glaube, Sie haben es getan.« Natürlich konnte ihn sein Gedächtnis nicht täuschen?
»Vielleicht ja.« Mirsky ging über die Brücke und an Lanier vorbei. »Das hier sind sehr geräumige Wohnungen, zumindest doch viel luxuriöser als die, wo das gemeine Volk lebte? Technisch sind Führer und Geführte endlich gleich gestellt worden.«
»Für meinen Geschmack ist es zu üppig.«
»Da stimme ich zu«, sagte Mirsky, als sie durch die Empfangsrotunde schritten unter einer Kuppel, die den Himmel aus der Sicht vom Nordpol Thistledowns darstellte. Zur Zeit war der Mond zu sehen und voll. Sein Licht warf unter ihren Füßen Schatten. »Aber das ist doch ein hübscher Effekt, nicht wahr?«
Er wirkte jetzt mehr wie ein Kind. Spontaner, spielfreudiger, aber mit Selbstbeherrschung.
Lanier folgte Mirsky in das kleine zwanglose Wohnzimmer. Der Russe probierte einen eleganten neutralen Sessel aus – neutral insofern, als er keine Traktionskissen oder andere Feldeffekte aufwies. Er schlug auf die Jahrhunderte alten Kissen, die immer noch weich waren, und schüttelte mit gespielter Betrübnis den Kopf. »Als ich von hier wegging, von diesem Sternenschiff«, sagte er, »war ich so durcheinander. Ich hatte viel von meiner Persönlichkeit verloren, oder meinte es wenigstens… sehr verwirrt. Aber an eines erinnere ich mich deutlich.«
Lanier räusperte sich. Mirskys langes Anstarren war entnervend.
»Ich bewundere Sie. Ich habe gemerkt, daß Sie unglaublich stark sind. Sie haben alles von Anfang gewußt und sind nicht… zerbrochen?«
Lanier schüttelte langsam den Kopf. Er bestritt nicht ausdrücklich, daß er seine geistige Gesundheit bewahrt hätte. »Es waren damals harte Zeiten.«
»Die allerschlimmsten. Ich kann kaum glauben, daß ich aus jenen Zeiten und Verhältnissen herausgekommen bin. Aber heute abend fühle ich diesen Drang zu sprechen, und ich möchte mit Ihnen noch mehr reden. Sie und ich sind einander ziemlich ungleich, aber ich sehe Ähnlichkeiten.«
»Selbst jetzt?«
Mirskys Gesicht wurde ausdruckslos. »Sie sind nicht begeistert. Ich fürchte, daß Sie das Ende Ihres Seiles erreicht haben.«
Lanier
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