Ewigkeit
lachte rauh und sagte: »Allerdings.« Und dann leise: »Sehr wahr.«
»Sie wissen, wenn jemand das Ende erreicht hat, fällt er herunter.«
»Er erhängt sich sogar«, sagte Lanier. »So pflegt man zu sagen.«
»Aber ein Hund erreicht das Ende, beißt das Seil durch – und ist frei.«
»Ein altes russisches Sprichwort?«
»Kaum«, sagte Mirsky, immer noch ausdruckslos. Er sah Lanier nicht direkt an, obwohl er ihm ziemlich nahe war. Er wirkte wie eine Art Pudding, in den man bequem hineinfallen konnte, um ein Leben von Vanille und Schlaf zu führen. Der Reiz, etwas zu bekennen, flammte auf.
Lanier saß ihm gegenüber und versuchte, die flüssige körperliche Bewegung seiner Jugend wieder aufleben zu lassen, nur um es mit diesem Avatar aufnehmen zu können. Wettbewerb war nicht praktikabel, aber…
»Nun gut«, sagte er. »Ich bin müde. Ich habe zu lange gelebt. Sie haben ein Universum überlebt und sind weder gelangweilt noch erschöpft.«
»Allerdings, aber ich bin gelangweilt und erschöpft auf eine Weise, die ich jetzt nicht klar erkennen kann. Erschöpft durch Versagen. Wir, die wir den Weg hinabgegangen sind, haben jämmerlich versagt, und das hat uns… das ist uns teuer zu stehen gekommen. Wir waren verängstigt. Wir haben erlitten, was ich nur einen Verlust der Persönlichkeit nennen kann. Und das allein genügte schon fast, um uns auszulöschen. Wenn man in einem Nullmilieu lebt, ist Verlust des Ichs wie ein Verlust von Blut. Wir haben uns beinahe selbst untergraben.«
Mirsky legte die Hände auf die Schenkel und spreizte die Finger. Er betrachtete sie, als ob er nach Schmutz oder Niednägeln suchte. Fast schüchtern fragte er: »Interessiert es Sie zu wissen, was ich jetzt bin?«
»Wir sind alle neugierig«, sagte Lanier wieder leise, so als ob er Mirskys faszinierende Offenheit nicht beeinträchtigen wollte.
»Ich bin wieder zu meinem alten Selbst zurückgekehrt – größtenteils. Manchmal kontrolliere ich nicht meine Fähigkeiten; und das geschieht, wenn das, was ich tun muß, das Fassungsvermögen meines alten Ichs übersteigt.«
Lanier verstand nicht und hob die Brauen. Mirsky fuhr ohne nähere Erklärungen fort.
»Aber ich komme, um mit Ihnen zu reden, und zwar deshalb, weil ich Ihnen etwas schuldig bin. Ich konnte diese Schuld während der ganzen Zeit nicht abtragen. In manchen meiner Gestalten hat mir das nichts ausgemacht, da meine Vergangenheit wie ein altes, nicht gelesenes Buch ganz weggenommen war. Aber als ich erfuhr, daß ich zurückkehren würde als mein altes Selbst, kam die Schuld wieder an die Oberfläche.«
»Ich weiß von keiner Schuld.« Lanier spürte, daß der Impuls anwuchs, nicht eigentlich ein Geständnis, aber ein Ausbruch, eine Explosion. Er wollte sich den Kopf halten und zusammennehmen.
»Eine einfache Schuld. Ich muß Ihnen danken.«
Lanier traten ungewollt Tränen in die Augen.
»Sie waren anständig. Sie haben Ihre Arbeit getan und keinen Dank begehrt. Sie sind der Grund, weshalb ich überlebte, um unsere lange Reise zu machen und jetzt zurückzukommen. In jeder Situation kann es einen Kristallisationskeim von Güte und Anstand und von Sensibilität geben. Sie waren auf dem Stein dieser Kristall.«
Lanier lehnte den Kopf im Sessel zurück. Tränen liefen ihm über die Wangen. Wäre das seinem Charakter gemäß gewesen, hätte er geschluchzt. Er hielt diese Erschütterungen zurück, fühlte aber trotzdem eine Erleichterung.
»Ein einfaches Dankeschön«, wiederholte Mirsky.
Wie unglaublich, daß er aus all der Zeit, in der er an der Restoration gearbeitet hatte, sich nicht erinnern konnte, daß ihm jemand gedankt hätte. Nicht einmal Karen, die zu nahe stand, um das Bedürfnis zu spüren. Er hatte Leben und Zeit für das von ihm betreute Volk geopfert, aber wegen seiner Art – eines sicheren Selbstvertrauens – nie Dank erhalten. Vielleicht auch konnte er sich aus irgendeiner persönlichen Schwäche nicht daran erinnern. Vielleicht war er nie in einer Lage gewesen, Dank entgegenzunehmen. Die Entspannung jetzt war wie das Abwickeln einer alten Spiralfeder, die seine Lebensfunktionen gehemmt hatte.
Er hob den Kopf und starrte verwirrt und dankbar zugleich in das undeutliche Gesicht des Russen. »Ich war Ihr Feind«, brachte er heraus. Er berührte sein Gesicht und war überrascht, eine alte, weiche und nachgiebige Haut zu finden.
Mirsky schnalzte mit der Zunge – für einen Avatar eine ungewöhnliche Manier. »Einen anständigen Feind zu haben, ist
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