Ewigkeit für deine Liebe
Halluzinationen? Waren ihr Drogen verabreicht worden? Vielleicht hatten die reizenden Schwestern Ballaster ihr etwas in den Tee getan. Oder in den Kuchen. War das wirklich Zimt?
Ein weiterer Blick bewies Emma, dass sie wirklich ganz allein war. Verärgert schlug sie sich mit dem Handrücken an die Stirn. Natürlich war sie ganz allein hier draußen!
Nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, fuhr sie mit ihren Aufnahmen fort. Was hätte sie auch sonst tun sollen? Schreiend davonlaufen kam nicht infrage. Was sollte sie sagen, wenn die Ballasters sie fragten, was sie hatte? Sie würden denken, sie sei völlig durchgeknallt ... Es sei denn, die schlauen alten Mädchen inszenierten selbst die Stimme, um ihren Gespenstergeschichten das richtige Ambiente zu verleihen. Das musste es sein!
Es war die einzige Erklärung, die Emma dafür fand.
Nach mehreren Minuten ohne Unterbrechungen durch geisterhafte Stimmen, beschloss Emma, all ihren Mut zusammenzunehmen und in die Burg hineinzugehen. Sie wollte ein ganz bestimmtes Foto bei Sonnenaufgang machen, und das würde sie auch verdammt noch mal bekommen! Schnell sammelte sie ihre Sachen ein und ging den Weg hinauf. Trotz ihrer Entschlossenheit konnte sie jedoch nicht anders, als sich immer wieder umzublicken.
Als sie das pechschwarze Loch des Torhauses passierte, lief es ihr kalt über den Rücken. Komischerweise tat sich jedoch nichts. Einigermaßen erleichtert ging sie über den Burghof zu der mit Efeu überwachsenen Treppe, stieg sie vorsichtig hinauf und stellte ihre Sachen auf dem Treppenabsatz an die Wand, um das richtige Licht für ihre Fotos abzuwarten. Gedankenverloren wickelte sie eins der Zimtkuchenstücke aus, schraubte die Thermosflasche auf und trank etwas von dem Kakao, den ihr die Schwestern mitgegeben hatten. Er war noch immer ziemlich heiß und wärmte sie von innen auf.
Als sie gerade in den Zimtkuchen biss, war die Stimme plötzlich wieder da.
»›Geh weg von meiner Mauer!«
Emma zog so scharf die Luft ein, dass sie Kuchenkrümel in den falschen Hals bekam. Während sie sich abmühte, den Kuchen herunterzuschlucken, ließ sie ihren Blick nach allen Seiten huschen, konnte aber, wie gewöhnlich, nichts entdecken. Mit tränenden Augen gelang es ihr, ihren Hals freizubekommen. Und jetzt war sie wütend.
»Ich weiß nicht, wer du bist, aber mir reicht ’s!«, sagte sie erbost. »Entweder du lässt mich in Ruhe, oder ... du verschwindest!« Nach ein paar Minuten, in denen keine Antwort kam, öffnete Emma mit grimmiger Miene ihre Thermosflasche und trank einen Schluck Kakao.
»›Denk bloß nicht, du könntest über meinen Besitz verfügen, Maid! Ich habe gesagt, du sollst verschwinden!«
»Oh!«, rief Emma und zuckte so heftig zusammen, dass die Thermosflasche ihrer Hand entglitt. Als sie sie noch aufzufangen versuchte, kam sie aus dem Gleichgewicht, ihr Stiefel glitt auf dem nassen Stein der Treppe aus und plötzlich sah sie sich den Rand hinunterfallen. Mit einem ängstlichen Aufschrei hielt sie sich an der äußeren Kante der Stufe fest und hing nun gute sechs Meter über dem Boden. Ihre Kehle wurde eng vor Furcht, so eng, dass ihre Stimmbänder ihr nicht mehr gehorchten und sie nicht einmal mehr schreien konnte. »Hilfe!«, versuchte sie zu sagen, aber das Wort war kaum mehr als ein leises Krächzen. »Hilfe. Bitte!«
»›Mach die Augen auf, Mädchen«, sagte die Stimme schroff.
»Nein«, flüsterte sie und tat es nicht. Warum sollte sie auf diese Stimme hören? »Lass mich in Ruhe.«
»›Mach die Augen auf«, wiederholte er, viel klarer diesmal schon und noch sehr viel ärgerlicher.
Aber das war ihr egal. »Nein.« Sie umklammerte den Stufenrand noch fester und merkte, dass ihre Finger langsam taub wurden.
»›Emma, mach verdammt noch mal die Augen auf, bevor du fällst!«, schrie die Stimme.
Die Stimme kannte ihren Namen?
Das ließ Emma aufhorchen. Langsam öffnete sie die Augen ...
... und starrte geradewegs in das Gesicht – dasselbe, das sie in der Nacht zuvor erschreckt hatte. Und jetzt hatte das Gesicht auch einen Körper.
Einen großen Körper, der keinen halben Meter von ihr entfernt auf der Treppe hockte.
Zu verängstigt, um etwas zu sagen, starrte Emma nur fassungslos in die blauen Augen, die auf sie herabblickten.
»Schieb deine Hand in meine Richtung! Am Rand der Treppe wirst du einen kleinen Vorsprung finden.« Er runzelte die Stirn, als sie nicht reagierte. »Beweg deinen linken Fuß etwa einen Zentimeter nach oben.
Weitere Kostenlose Bücher