Ewigkeit
Einen Moment lang stand sie da und beobachtete die Fußgänger, die unter dunklen Regenschirmen und glänzenden Mänteln auf der Straße umhereilten. Es war unmöglich, sie nicht als Lebewesen mit eigenen Gedanken und Gefühlen zu sehen. Trotzdem war ihre Existenz in gewisser Weise eine Illusion.
Skellsgard hatte davon gesprochen, dass diese Welt in gewisser Weise wie ein Foto war, der Schnappschuss eines bestimmten Augenblicks der Geschichte, der sich aus noch unbekannten Gründen von diesem Zeitpunkt an weiterentwickelte, während er gleichzeitig in der Panzerhülle der AGS gefangen blieb. Niemand konnte sagen, mit welcher Methode man diesen Schnappschuss aufgenommen hatte, oder ob irgendjemand, der zu jenem Zeitpunkt auf der echten Erde gelebt hatte, auch nur die leiseste Andeutung gespürt hatte, dass etwas geschehen war … eine extrem kurze Unterbrechung des Gedankenflusses, ein winziges kollektives Déjà-vu-Erlebnis. Möglicherweise hatte niemand auch nur das Geringste bemerkt.
Aber danach waren die beiden Geschichtsverläufe voneinander abgewichen. Die echten Gegenstücke der Menschen, die sich hier auf E2 befanden, hatten als Wesen aus Fleisch und Blut in der wirklichen Geschichte von E1 gelebt. Der Schnappschuss konnte nicht später als im Mai 1940 aufgenommen worden sein, aber er konnte auch nicht aus sehr viel früherer Zeit stammen, da die Ereignisse, die auf E2 zur Ardennenoffensive der Deutschen geführt hatten, im Großen und Ganzen dem Geschichtsverlauf von E1 zu entsprechen schienen. Die wirkliche Welt, E1, war kurz danach in einen entsetzlichen Krieg gestürzt. Sicher waren viele Menschen, die zur Zeit des Schnappschusses noch am Leben gewesen waren, im Laufe des Krieges oder der folgenden, konfliktgeladenen Elendsjahre gestorben. Selbst das Leben derjenigen, die irgendwie durch die Risse der Weltgeschichte gerutscht und dem Tod im Krieg, durch Hunger oder durch politische Unterdrückung entgangen waren, war vermutlich von den grausamen Verhältnissen dieser Jahre gezeichnet gewesen.
Aber wie schrecklich diese Lebensgeschichten auch gewesen sein mochten, wie erbärmlich und elend und tragisch, sie waren nach dem richtigen Drehbuch abgelaufen. Es waren die Leben ihrer Gegenstücke auf E2, die abwichen. Und beinahe alle Menschen, die nach der Trennung der Zeitlinien auf E2 geboren worden waren, hatten auf E1 entweder nicht existiert oder waren ganz andere Personen gewesen. Sie lebten in jeder Hinsicht von geborgter Zeit. Nicht nur »von ihr«, sondern sogar »in ihr«.
Einen Moment lang blitzte ein abscheulicher Gedanke in Augers Kopf auf. Wie viel einfacher wäre es, wie viel passender, wenn diese Lebensgeschichten sich nie ereignet hätten? Wenn der Schnappschuss nur Paris und den Rest der Welt festgehalten hätte, aber nicht die Menschen darin? Wenn er wie eine jener Stadtfotografien aus dem 19. Jahrhundert gewesen wäre, deren Belichtungszeit so hoch war, dass die Menschen bis zur Nichtexistenz verschwammen und nur Gespensterspuren hinterließen?
Der Gedanke ließ sie erschaudern, aber sie konnte ihn nicht ganz verdrängen.
Sie warf wieder einen Blick auf die Uhr, nahm ihren Mantel und verließ das Hotelzimmer. Der Portier hob eine Augenbraue, als sie, immer noch nicht ganz sicher in den hochhackigen Schuhen, an ihm vorbei durch die Lobby wankte. In diesem Moment begann das Telefon an der Rezeption zu klingeln, und als den Hörer abnahm, hatte er die unbeholfene Amerikanerin und ihre offensichtliche Eile bereits vergessen.
Siebzehn
In der Métro-Station an der Rue Cardinal Lemoine kaufte Auger einen einfachen Fahrschein und stürzte sich ins mittägliche Fahrgastgetümmel. In Paris nahmen die Leute das Mittagessen ernst und fanden nichts dabei, die halbe Stadt zu durchqueren, um sich mit einem Kollegen, Partner oder Liebhaber in irgendeinem guten Café oder Restaurant zu treffen. Auger konnte sich nicht sicher sein, ob man ihr vom Hotel aus gefolgt war, aber sie nutzte die Flut der Fahrgäste, um es einem etwaigen Verfolger möglichst schwer zu machen. Sie drängte sich durch die Menge und hetzte Treppen und Rolltreppen auf- und abwärts. Als sie schließlich am unterirdischen Bahnsteig ankam, wurde sie langsamer und ließ den wartenden Zug ohne sie abfahren. Danach war die Plattform zwar nicht völlig verlassen, aber das wäre wohl auch zu viel verlangt gewesen. Es gab immer Leute, die offenbar nichts Besseres zu tun hatten, als ungeachtet der durchfahrenden Züge und
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