Ewigkeit
es verstand, umfasste der Vertrag unter anderem die Herstellung dreier großer Metallkugeln in den Berliner Werken von Kaspar Metall. Der Brief erwähnte auch den Transport und die Installation dieser Aluminiumkugeln und einiger Zubehörteile in Berlin, Paris und Mailand. Aus der Aufmerksamkeit, die der Brief ihrer Auslieferung widmete, ging deutlich hervor, dass die Kugeln sehr groß und schwer waren. Sondervorkehrungen für ihre Lieferung waren notwendig, und sie waren viel zu schwer, um sie per Flugzeug zu transportieren, selbst über die betreffenden Entfernungen. Weiterhin betonte der Brief, wie kompliziert es sein würde, die Objekte gemäß den Anweisungen des »Künstlers« auszuliefern, ohne sie dabei zu beschädigen, und dass dadurch Extrakosten fällig würden.
Metallkugeln. Was hatte es damit auf sich?
Auger sah die übrigen Zettel und Dokumente durch, auf der Suche nach etwas, das mit dem deutschen Vertrag in Verbindung stand. Fast auf Anhieb entdeckte sie die sorgfältige Zeichnung einer Kugel, die mit vielen dünnen Drähten befestigt an einer Art Galgen oder Gerüst hing. Laut der Beschriftung hatte die Kugel einen Durchmesser von über drei Metern.
Auger wünschte, sie hätte Zugriff auf die historischen Datenbanken von E1. Obwohl sie nicht vollständig waren, hätten sie ihr zumindest einen Anhaltspunkt gegeben, ob die Kugelobjekte auch Teil der Zeitlinie von E1 waren. Vielleicht hatte irgendein ambitionierter Künstler tatsächlich die Herstellung solcher Aluminiumkugeln in Auftrag gegeben, und Susan White hatte ein absolut harmloses Projekt völlig falsch interpretiert. Auger konnte sich nicht darauf verlassen, aber es handelte sich um die Art von Detailinformation, die das Vergessen möglicherweise überstanden hatte.
Aber selbst wenn dem so war, machte sich Auger klar, dass sie es hier mit E2 zu tun hatte, wo die Zeitlinie bereits seit zwanzig Jahren von der E1-Chronologie abwich. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Künstler in zwei verschiedenen Geschichtsverläufen das gleiche Projekt betrieb, war ausgesprochen gering. Das galt sogar für den Fall, dass die Kugeln Teil eines geheimen Militär- oder Wissenschaftsprojekts waren. Selbst wenn es auf E1 eine zurückverfolgbare analoge Entwicklung gab, war es ziemlich unwahrscheinlich, dass im veränderten Europa von E2 eine ähnliche Initiative zustande kam. Aber es war zugegebenermaßen nicht undenkbar. Wenn es einen ausreichenden strategischen Grund für etwas gab, mochte es sowohl in der Geschichte von E1 als auch in der von E2 auftauchen, trotz der unterschiedlichen politischen Landschaften. Unwahrscheinlicher erschien allerdings, dass auf E2 etwas entwickelt würde, das es auf E1 nicht gegeben hatte, insbesondere, wenn dieses Etwas einen wissenschaftlichen Hintergrund hatte. Die Wissenschaft auf E2 hatte sich seit 1939 kaum weiterentwickelt.
Dann wurde Auger klar, dass es eine noch beunruhigendere Möglichkeit gab. Das Projekt, dem Susan White auf die Spur gekommen war, hatte vielleicht gar nichts mit den Einheimischen zu tun.
In diesem Fall stellte sich die Frage, wer es betrieb. Und was bezweckte man damit? Sie hatte nicht einmal den Ansatz zu einer Antwort, aber sie hatte das Gefühl, auf der richtigen Fährte zu sein. Sie konnte beinahe spüren, wie Susan Whites Geist ihr ermutigend zunickte und verzweifelt darauf wartete, dass sie den nächsten, im Grunde völlig offensichtlichen Denkschritt machte.
Aber Auger konnte es nicht – noch nicht.
Sie sah auf die Uhr. Es war kurz vor elf. Sie hatte also noch eine gute Stunde, um es in den Métro-Tunnel zu schaffen, bevor der Strom unterbrochen wurde.
Eilig, aber sorgfältig sammelte sie die Papiere ein, wickelte sie in ein Blatt Briefpapier vom Stoß auf dem Tisch und steckte sie in die Handtasche. Sie hätte sich gerne auch den Rest genauer angesehen, aber diesen Luxus konnte sie sich nicht leisten. Und in Anbetracht von Avelings Warnungen über die Unzuverlässigkeit der Verbindung hatte Auger es mehr als eilig, sicher auf die andere Seite zurückzukommen. So sehr die lebendig gewordene Erinnerung an Paris sie auch verzaubern mochte, so sehr sie sich alle Zeit der Welt wünschte, um sie zu erforschen, so wenig wollte sie hier zur Gefangenen werden.
Auger zog die dünnen Netzgardinen vorm Fenster auf. Nachdem sie zum Hotel zurückgekehrt war, hatte es zu regnen begonnen – ein weicher Oktoberregen, der die spätmorgendlichen Stadtgeräusche zu einem leisen Verkehrsrauschen dämpfte.
Weitere Kostenlose Bücher