Ex en Provence
Fitnessprogramm denn wirklich?«, erkundigt sich Bettina, Body-Mass-Index 17,9, mit gewohnter Indiskretion, nachdem sie mir gerade eben mal wieder viel zu detailliert die anatomischen Vorzüge ihres jüngsten Ex namens Brian geschildert, dann aber seine mangelnde Kondition bemängelt und sich schließlich selbst zum Ende dieser »Beziehung« gratuliert hat. Ich kann die Männer schon gar nicht mehr zählen …
»Gut, gut.«
»Was heißt ›gut, gut‹?«, insistiert Bettina. »Wie viele Kilometer?«
Aaaah!
Meine Schwester ist eine echte Streberin. War sie schon immer, in der Schule, im Sportverein … Überall war sie, und überall war sie natürlich die Beste, die Schlauste, die Schlankste, die Schnellste … Immerhin konnten uns so die Leute von Anfang an eigentlich ganz gut unterscheiden: Bettina, das Power-Girl, und Anja, die, na ja, lahme Ente.
Bettina holt tief Luft. »Also, ich bin am Dienstag acht Kilometer gelaufen …«
Schon bei der Geburt hat Bettina sich ja rücksichtslos vorgedrängelt, wie sie mir gerade noch einmal in Erinnerung gerufen hat. Und inzwischen hat sie es mit derselben Strategie sogar bis in den Vorstand einer mittelgroßen Bank gebracht. In die Finanzwelt bin ich ihr zum Glück erst gar nicht mehr gefolgt, sondern habe gleich Germanistik und Englisch auf Lehramt studiert.
»Am Dienstag war Tempotraining, das waren …«
Aber mit ihrem Vorstandsposten ist Bettina selbstverständlich längst noch nicht zufrieden. Und da es in der Frankfurter Bankenszene irgendwann nicht mehr schnell genug aufwärtsging, die Wall Street aber bisher noch nicht gerufen hat, muss meine Schwester auch noch Marathon laufen!
Nicht etwa ein bisschen joggen, wie ich es mir vorgenommen habe und wie es eigentlich alle anderen tun oder längst tun wollten. Nein, Ma-ra-thon!
»Mittwoch sind wir locker getrabt …«
Innerlich seufzend stelle ich das Telefon auf Lautsprecher und lege es auf den Tisch, direkt neben die Dreierpackung Rochers – genau, die tischtennisballgroßen Schokokugeln mit absolut unwiderstehlicher Nougatfüllung, einzeln in hübscher goldener Folie verpackt – und die Frauenzeitschrift mit der Titelgeschichte »Abnehmen mit Stil«. Beides habe ich mir vorhin in dem kleinen Laden gegenüber bei Jean-Yves gekauft. Der hat mir die Zeitschrift und die Rochers mit einem Augenzwinkern über den Tresen geschoben und gemurmelt: »Nach einer ordentlichen Jogging-Runde darf man sich ja auch mal was Leckeres gönnen.«
Wie Recht er hat. Nur dass ich bekanntlich nicht Joggen war! Okay, ich bin auf dem Rückweg von Chloé schon ein bisschen ins Schwitzen gekommen. Aber schließlich herrschen ja immer noch Temperaturen von knapp 25, wegen absoluter Windstille aber gefühlten 30 Grad. Und, zugegeben, mein Freizeit-Jogginganzug aus Berlin ist für diese Temperaturen wohl ein bisschen zu warm, aber Shorts gehen aus Fettpolster-Gründen gar nicht, und alle meine halbwegs repräsentativen Klamotten sind nach den ersten Wochen Unterricht an der Sprachenschule auf dem »Muss-ich-noch-bügeln-Stapel« gelandet, den ich jetzt gleich nach dem Telefonat mit Bettina abarbeiten werde.
Bestimmt.
An meinem Gymnasium in Berlin habe ich diese Kleidung nur für Abiturfeiern, Elternabende und -sprechtage gebraucht. Jetzt muss ich wohl langsam mal für Nachschub sorgen.
»Und du? Nun sag schon. Wie viele Kilometer in dieser Woche?«, erkundigt sich Bettina.
Du kannst es aber auch wirklich nicht lassen!
»Äh, keine Ahnung«, versuche ich auszuweichen. »Mit dem Auto so um die hundert, mein Arbeitsplatz liegt ein ganzes Stück weg.«
Bettina lacht: »Ach komm, war doch nicht so gemeint.«
Das war schon immer das Gute an ihr: Wenn erst einmal wieder bestätigt war, wer von uns beiden die Beste ist, dann ist sie eigentlich ganz sympathisch, fast liebenswert. Und schließlich haben wir, wenn ich es mir genau überlege, vielleicht nicht gerade den BMI , aber sonst doch eine Menge gemeinsam, nämlich …
keinen Vater, weil unsere Mutter ihn irgendwo im schwer narkotisierten Gewühl von Woodstock aus den Augen verloren hat,
ebenjene Mutter, die mit einem laut Geburtsurkunde 59 Jahre alten, optisch aber höchstens 49-jährigen Körper und einem Teenager-Verstand weltweit immer noch auf der Suche nach »Peace and Love and Rock’n’Roll« ist,
keinen Mann.
»Also bist du noch gar nicht gelaufen und schwelgst die ganze Zeit nur in Croissants aus deiner Hausbäckerei. Habe ich das richtig verstanden?«
Sympathisch? Fast
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