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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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aß wie in Berlin, hatte sie schon das erstemal wahrgenommen. Und heute wie stets waren die gleichen Leute da wie in Berlin, und man sprach das gleiche.
    Frau Heilbrun war zwar heute nicht da. Heilbrun lebte einmal wieder getrennt von ihr. Ab und zu versöhnten sie sich; die Frau liebte ihn leidenschaftlich, aber das Leben an der Seite des großspurigen, bedenkenlosen Mannes war nicht leicht, und sosehr seine glänzenden Eigenschaften sie anzogen, sosehr stießen ihre Kehrseiten sie ab. Heilbruns Gäste wußten nie, ob es angebracht war, sich nach seiner Frau zu erkundigen.
    Heute jedenfalls machte er allein den Wirt, lärmend, mit weiten Gebärden und mit einer Munterkeit, die ein wenig erkrampft schien.
    Es mochten an die zwanzig Leute da sein. Einige von ihnen trugen Namen, die seinerzeit in Berlin guten Klang gehabt hatten; ein früherer Minister war unter ihnen, ein früherer Staatssekretär, ein früherer Universitätsprofessor, der frühere Leiter eines großen Konzerns, der frühere Chefredakteur einergroßen Berliner Zeitung und ein Musikkritiker, der früher für alle, die in Berlin mit Musik zu tun hatten, das gute und das schlechte Wetter gemacht hatte. Man aß vortrefflich und unterhielt sich lebhaft, man war gut angezogen und saß wohlhäbig in der alten, soliden Umgebung.
    Heilbrun rühmte seine Köchin, wie jedesmal. Was er hier vorsetze, das sei ein richtiges Berliner Abendessen aus der guten Zeit der Republik. Berlin, die gute Zeit der Republik, das war es offenbar auch, was die meisten hier suchten, sie tauchten mit Freunden unter im Gefühl des Damals. Als hätte man sich darüber verständigt, vermied man es, von den Dingen des Heute zu reden. Statt dessen erging man sich in Erinnerungen, ergötzte sich an alten, vergangenen Freuden und Siegen, ergrimmte über die Niederlagen von ehemals, stritt über längstbegrabene Streitfragen, das Erledigte war nicht erledigt, es war da, es lebte, man ereiferte sich, wenn man nicht darüber einig werden konnte, ob ein gleichgültiges Detail so gewesen sei oder so. Den weitaus meisten deutschen Emigranten ging es ähnlich, sie kamen nicht los von ihrem Früher, die Vergangenheit verklärte sich ihnen. »Bei uns« war das so, sagten sie; alles war »bei uns« schöner gewesen, praktischer, sinnvoller. »Bei uns«, sagten sie, dachten sie, bedauerten sie, werteten sie bei jedem Anlaß, deutsch und französisch: »Bei uns, chez nous.« Die Chez nous nannten sie die Franzosen. Heute abend nun, bei Heilbrun, war man unter sich, man war chez nous; man vergaß das Heute und lebte ein paar Stunden in willkommener Euphorie.
    Der alte Universitätsprofessor Ringseis wandte sich an Trautwein. Geheimrat Ringseis war ein Gräzist von internationalem Namen, seine Bücher, über Streitfragen der Homerforschung zumeist, interessierten weit über die Fachkreise hinaus. Obwohl »Arier« und an Politik niemals interessiert, war er aus der Heimat vertrieben worden; ja, gewisse Geschehnisse, die ihm im Dritten Reich zugestoßen waren, mußten ihm einen solchen Schock versetzt haben, daß man ihn für geistig nicht mehr ganz gesund hielt.
    Gekommen war das so. Das für die Gegenwart wichtigste Werk, das die Altphilologie der Deutschen hervorgebracht hatte, war die »Realenzyklopädie des klassischen Altertums«; bereits die zweite Generation arbeitete daran. Die Nazi nun merzten die jüdischen Mitarbeiter aus, verzögerten so die Fertigstellung des Werkes und gefährdeten für alle Zeiten seinen Wert und seine Brauchbarkeit. Als Ringseis das erleben mußte, hatte er despektierliche Äußerungen über die Naziregierung getan. Daraufhin, erzählte man, hatte ihn ein Neffe, ein Halbwüchsiger, an den er sein Herz gehängt, bei den Nazibehörden denunziert. Man hatte Ringseis vorgeladen und ihm in höflicher Form eröffnet, es blieben der Regierung zwei Möglichkeiten: entweder stimmten die Angaben des jungen Menschen, dann könnte man nicht anders, als ihn, Geheimrat Ringseis, in ein Konzentrationslager zu stecken, oder aber die Angaben des Jungen seien unwahr, dann müsse der in eine Besserungsanstalt. Wie sich Ringseis vor dieser Alternative verhalten hatte, war nicht bekannt.
    Jetzt jedenfalls lebte er in Paris und erzählte jedermann, wie er sich wohl fühle, weil er kein Kolleg mehr zu lesen und die Arbeiten des Seminars nicht mehr zu leiten brauche. Er lebe jetzt ausschließlich seiner literarischen Tätigkeit und dem Genuß des Augenblicks und habe nie geahnt, welches Behagen

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