Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
traurig. Sie waren nun einmal aus dem lebendigen Strom herausgeworfen, sie waren in Brackwasser geraten, und wenn sie einander noch soviel vorschwärmten, wie es früher gewesen war, heute war es anders, und es hatte keinen Sinn, sich darüber wegzutäuschen. Er konnte die künstliche Lustigkeit nicht länger ertragen, er ging ins übernächste Zimmer, in dem niemand war.
Er drehte an dem Radioapparat, den er dort fand, suchte herum, die Tonstärke dämpfend, um die übrigen nicht zu stören. Vielfältig aus aller Welt drangen Geräusche auf ihnein. Das Vordringlichste war eine Stimme, die immer wieder kam, über alle deutschen Stationen, ein vulgärer Tenor. Sepp Trautwein hatte die Stimme oft gehört, es war die eines deutschen Ministers. Was der Mann sagte und wie er es sagte, erschien ihm lächerlich und widerwärtig zugleich. Manchmal sonst, wenn er die Stimme hörte, hatte er sie fortgedreht; heute, in seiner trüben Laune, kam ihm diese Stimme gerade zupaß, sie verwandelte seine passive Melancholie in Haß, in Aktivität.
Trautwein lächelte grimmig. Was für einen soldatischen Jargon sie jetzt sprechen im Dritten Reich. Sie haben auch die Sprache militarisiert; schneidig und großspurig, wie sie sind, verpflanzen sie Worte aus dem Bereich der Armee auf Gebiete, wo sie wahrhaftig nichts zu suchen haben. »Arbeitsfront«, »Erzeugungsschlacht«. Sind Fabriken Schlachtfelder? Ist die Arbeit ein kriegerisches Unternehmen? Nächstens, wenn ein Minister auf den Lokus geht, werden die Zeitungen berichten, er habe eine Entleerungsschlacht geliefert.
Im übrigen widersprach, was die Stimme durch die Lüfte schrie, so offenkundig der Wirklichkeit, daß Trautwein nicht begriff, wie ein menschlicher Mund sich dazu hergab, so sinnlos Verlogenes in die Welt zu lassen. Die Stimme erzählte ihren Deutschen, deren Brot von Tag zu Tag knapper wurde, wieviel besser es ihnen gehe als den Einwohnern irgendeines andern Landes; sie erzählte ihnen, die, ehe sie das leiseste Wort der Kritik flüsterten, ängstlich um sich spähen mußten, sie allein hätten die wahre Freiheit. Dreist fälschte die Stimme alles, was ringsum geschah, ins Gegenteil um, »zum Nutzen der Partei und des Volkes«. Wer unter den Hörern sich noch ein Restchen Vernunft bewahrt hatte, mußte das merken. Von denen aber, die dem Redner von Angesicht zu Angesicht gegenübersaßen, waren offenbar nur mehr wenige bei Vernunft. Trautwein hörte, wie begeistert sie sich dem Wortschwall hingaben, sie schrien sich heiser vor Enthusiasmus, sie klatschten und trampelten, übrigens oft an der falschen Stelle. Es war offenbar schon gleichgültig, was der Mann sagte: sie hatten sichdaran gewöhnt, der Stimme zu glauben, der vulgären Stimme zuzujubeln, die das Vulgäre in ihnen selber streichelte und stachelte. Sepp Trautwein hatte das am Radio schon mehrmals erlebt. Aber das widerwärtige und groteske Hörspiel fesselte ihn immer von neuem; heute, in seiner Bitterkeit, weidete er sich mit zwiefachem Grimm an der Schmach seiner Heimat.
Allmählich hatte die Stimme aus dem Radio auch andere von Heilbruns Gästen angezogen, schließlich waren sie alle da. Sie standen herum, hörten zu, machten spöttische Gesichter oder angewiderte, schüttelten die Köpfe, lachten. Langsam aber verging ihnen das Lachen. Immer maßloser in seiner Umkehrung der Wahrheit wurde das dreiste Gewäsch. Und sie hörten es betreten. Aus dem, was die Machthaber jetzt dem deutschen Volke zu bieten wagten, konnte man erkennen, wieweit es ihnen bereits geglückt war, dieses verständige Volk in Dummheit einzulullen. Ganz still saßen oder standen zuletzt die Leute in Heilbruns Zimmer. Wo war die frohe Stimmung von vorher? In schwerer, hoffnungsloser Stummheit hörte man dem gemeinen Gerede der gemeinen Stimme zu.
Endlich, mit jähem Ruck, stellte Trautwein den Apparat ab. So abrupt kam, so wohltätig die Stille, daß man aufwachte wie aus einem scheußlichen Traum. Man sah einander an, man versuchte die erstarrten Gesichter wieder in die rechte Form zu bringen, man versuchte zu lachen, über das wüste Erlebnis wegzugleiten. Es gelang nicht recht. Bald wieder vertröpfelten die Gespräche, eine neue, noch lähmendere Stille war da.
In dieses neue Schweigen hinein klang auf einmal die Stimme des alten Geheimrats Ringseis. Langsam, sanft nickte er mit dem großen Kopf, freundlich mit den vorquellenden Augen sah er in die Runde, und: »Die Freier«, sagte er, »sind über das Haus des Odysseus
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