Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
ein solches Leben einem schaffe. Er war sonderbar verkapselt, er lächelte viel, eine sanfte, künstliche Stille war um ihn herum, es war so, als hätte sich der ganze Mann mit großem Bemühen selber in Watte gepackt. »Man kann sich«, sagte er gelegentlich, »auch gegen anderes als gegen den Gesang von Sirenen Wachs in die Ohren stopfen.« Auch erklärte er: »Es liegt an dem kleinen Wort ›ara‹. Wir übersetzen es mit ›nun denn also‹ oder ›somit‹ oder einfach ›also‹ oder auch ›füglich‹ oder mit dergleichen, oder wir sagen schlechterdings, es sei ein Flickwort, und lassen es überhaupt fort. Aber Homer hat genau gewußt, warum er es so oft gebraucht. Ursprünglich bedeutet es: ›wie sich denken läßt‹. Man sollte es nicht weglassen. Es gibt das Epische, es gibt die Ruhe, es gibt die Weisheit.Wenn wir das kleine Wort ›ara‹ besser bedacht hätten, dann wäre manches nicht passiert. Ein künftiger Epiker wird bestimmt dichten: ›Als sie dann an die Macht gekommen waren, ergriffen sie, wie sich denken läßt, alle diejenigen, die sie nicht liebten, banden sie, wie sich denken läßt, schlugen sie, verpraßten ihr Gut und nahmen ihnen ihr liebes Leben.‹ Ja, es steht mancherlei in dem kleinen Wort ›ara‹, und zuweilen ist es auch abgekürzt und heißt nur ›ar‹, und manchmal heißt es auch nur ›r‹.«
»Diese fühlen sich wohl«, sagte er zu Trautwein, auf die andern Gäste weisend, mit seinem kindlichen Lächeln. »Warum nicht? Die Leutchen haben recht. Es gibt eine Version, nach welcher Odysseus bei den Phäaken bleibt. Der Mann, der diese Version gedichtet hat, muß mancherlei erlebt haben.«
Trautwein betrachtete den Alten, seinen großen, stillen Kopf mit dem graumelierten Schifferbart und den vorquellenden Augen. Der ließ die Vergangenheit, das Drüben, nicht mehr an sich heran, er genoß die Verantwortungslosigkeit des Exils. Er hatte wohl von einer »Muße mit Würde« geträumt, jetzt freute er sich an seiner »Muße ohne Würde«. Jedesmal wenn man ihn sah, schien er glücklicher. Dabei verkam er sichtlich, nicht nur geistig, man sah es seinem Anzug an, aber er schien es nicht zu merken.
Zwischen dem ehemaligen Minister und dem ehemaligen Chefredakteur war mittlerweile ein ernsthafter Streit entstanden. Es ging um gewisse Getreidezölle, welche der Minister vor zwölf oder dreizehn Jahren hatte durchführen wollen und die der Journalist damals erbittert bekämpft hatte. So scharf redeten die beiden jetzt aufeinander ein, daß die andern allmählich verstummten und ihnen zuhörten. Sie steigerten sich in immer größere Erregung, liefen rot an. Es war, als bekäme der Minister seine Zölle bewilligt, wenn es ihm nur gelänge, die Einwände des andern zu widerlegen. Längst hatten sie vergessen, daß das Problem, um welches sie stritten, vor langen Jahren und für immer erledigt worden war.
Ringseis hörte zu, schüttelte den Kopf. »Sind sie nicht«,fragte er mit mildem und listigem Lächeln Trautwein, »wie jene Schatten, welche Odysseus im Hades aufsucht? Die treiben es fort dort unten, wie sie es als Lebende getrieben haben, und hassen und lieben einander wie damals.«
Sepp Trautwein bewegten die Worte des Alten. Das ganze Abendessen mit seinem Drum und Dran schien ihm gespenstisch. Bin ich der einzig Nüchterne? dachte er. Wenn einer die Geschichte der letzten zwanzig Jahre schreibt, sind ihre Getreidezölle im besten Fall Fußnoten, in winzigen Lettern gedruckt, und die Kerle bilden sich noch immer ein, sie bewegten die Welt. Der alte Tattel hat recht: sie sind tot und wissen es noch nicht.
Erstaunt nahm er wahr, daß auch Anna sich von dem Gewese der andern hatte anstecken lassen. Sie war lustig von Natur, und heute abend war der Kleinkram, waren die Sorgen ihres Alltags von ihr abgefallen, sie lachte viel und zeigte ihre großen, weißen Zähne, sie war jene Anna, um die man sich seinerzeit in Deutschland in jeder Gesellschaft gerissen hatte. Sie hatte mit Behagen gegessen, hatte ein bißchen getrunken, der alte Raum mit den alten Möbeln gefiel ihr, die Menschen gefielen ihr. Es war die deutsche Luft von früher, sie atmete auf. Ihre Frische von früher war wieder da, ihre Munterkeit, ihre Lebenslust. Ihre schönen Augen glänzten, ihr breites Gesicht war nicht mehr verwaschen, es strahlte.
Sepp Trautwein war kein Spielverderber, er gönnte Anna von Herzen, daß sie sich wohl fühlte. Doch das ganze kindische Gehabe ringsum reizte ihn auf und machte ihn
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