Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
solche kleine Erwägungen soll man nicht hören.« Und sehr schnell, mit Entschluß, fügte er hinzu: »Ich hab eine unbändige Freude auf Moskau, ich müßte lügen, wenn ich anders redete: aber von euch wegzugehen, das fällt mir auch verdammt schwer.«
Sepp und Anna schwiegen noch immer. Da, gewaltsam munter, etwas täppisch, wechselte Hanns das Thema. »Dein Aufsatz über den ›Judas Makkabäus‹«, wandte er sich an Sepp, »wir haben ihn alle gelesen, auch Vater Merkle hat ihn gelesen, er ist einfach großartig. Ich habe gar nicht gedacht, daß einer mit Musik die Dinge so gut und unmißverständlich ausdrücken kann wie dieser Händel, und auch nicht, daß man einem Musik so gut erklären kann wie du. Wir waren alle hingerissen«, und er errötete von neuem.
Jetzt aber wollte er die Sache endgültig los sein. Resolut brach er ab: »Mein Gott, ich habe ja nur noch fünf Minuten, und ich wollte noch die Verlängerungsschnur fürs Radio in Ordnung bringen«, und er machte sich ans Werk.
Sepp Trautwein, nachdem der Junge dann gegangen war, spürte eine tiefe Müdigkeit. Er lächelte, wenn er an das dachte, was ihm sein Hanns über den »Judas Makkabäus« gesagt hatte, aber es war ein bitteres Lächeln. Dafür also schrieb man, das erreichte man, daß einem der eigene Bub auf die Schulter klopfte und so naives Zeug daherredete. Er wollte immer alles zu fein machen, er wollte, daß die Leute die Dinge von tausend Seiten her anschauten, »gerecht«, wie er selber. Wozu die Mühe? Je naiver, um so wirksamer. Heilbrun hatte recht. »Seinicht allzu weise und nicht allzu gerecht, auf daß du nicht verderbest.« Und auch Harry Meisel hatte recht. Man kann die Welt nicht für dumm genug anschauen, sie ist noch dümmer.
Aber wenn man es so anschaut, dann hat Hitler recht, und alles, was er selber macht, ist für die Katz. Der Fall Benjamin. Er hat sich in den Strudel geworfen, er schwimmt, er zappelt sich ab wie ein Verrückter, er schluckt Wasser und kriegt kaum mehr Atem. Und was geschieht, wenn es sich wirklich um ein fait accompli handelt? Wenn man um einen Toten kämpft, um einen, der jetzt vielleicht schon seit langem verwest? Was wird dann aus ihm? Wie soll er einen solchen Schlag überstehen? Wofür dann hat er seine Musik aufgegeben? Es ist Unsinn, alles, was er macht. Es ist überflüssig. Er ist ein alternder Nichtsnutz. Wenn der Musikdirektor Riemann, wenn Richard Strauss, wenn alle die, welche er in München und in Deutschland zurückgelassen hat, finden, er sei ein spinneter Tropf und gehöre nach Eglfing, dann haben sie recht.
»Sitz nicht so da, Alte«, sagte er zu Anna, er sagt es stark bayrisch, daß es wie eine vertraute Liebkosung klingt. Er fühlt sich ihr nahe. Niemand hat ihn und seine Musik wärmer verstanden als sie, sie hat seine Musik verteidigt gegen ihn selber, sie liebt ihn weiter, trotzdem er ihren guten und richtigen Rat nicht befolgt hat. Er möchte von ihr bemitleidet werden und getröstet. Aber er sieht, sie braucht seinen Trost mehr als er den ihren. Mit einer täppischen und dennoch zarten Bewegung legt er ihr den Arm um die Schulter. »Kinder werden groß«, sagt er, »Kinder werden selbständig, das ist nun einmal nicht anders. Da mußt du dich halt mit mir begnügen.«
Am Tag darauf stellte sich heraus, daß die tiefe Müdigkeit, welche Sepp Trautwein nach Hannsens Erklärung gespürt hatte, nicht allein auf seine Erregung zurückzuführen war, sondern auf eine anziehende Krankheit. Er mußte sich heftig erkältet ins Bett legen.
Man konnte seine Krankheit als einen starken Schnupfen bezeichnen oder als eine leichte Grippe, doch welchen Namen immer sie trug, sie quälte den sanguinischen Mann sehr. Husten schüttelte ihn, seine Haut prickelte von Fieber, bald schwitzte er, bald war ihm eiskalt, er räusperte und schneuzte sich, er war am ganzen Körper zerschlagen, jedes Haar tat ihm weh. Anna kannte diese Anfälle und wußte, wie sehr sie Sepp hernahmen. Sie war gewohnt, ihn in solchen Lagen mit Liebe, Angst, Sorgfalt, Pillen, Tränken und Alkoholabreibungen zu betreuen und ihm seinen Zustand mit tausend erfinderischen Listen zu erleichtern; sie pflegte ihm gut zuzusprechen, ihm vorzulesen, ihn auf die verschiedensten Arten von seinen Gedanken abzulenken.
Heute indes konnte sie nicht bei ihm bleiben. Sie hatte für diesen Abend eine Einladung zu Pereyros angenommen. Zuerst hatte sie auch für den widerwilligen Sepp zugesagt, und sie war überzeugt, daß Sepp bei aller
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