Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
das nicht bald tut, Professor«, erwiderte Harry Meisel unberührt und höflich, »liegt mir nicht mehr viel an seiner Hilfe. Die Emigrantenbaracke, damit mag unser Freund Tschernigg recht haben, ist heute der angemessenste Aufenthalt für einen Dichter; wenn man in ihr lebt, lebt man gleichnishaft. Aber schließlich ist man nicht nur Dichter, und das gleichnishafte Leben wird einem auf die Dauer langweilig. Ichhabe da einen Brief bekommen aus Akron, Ohio. Mister Patrick L. Meisel aus Akron, Ohio, bietet mir einen Job in der Propagandaabteilung seiner Gummifabrik; er hat offenbar Sinn für die praktische Verwertung dichterischer Fähigkeiten. Mister Meisel dürfte mit mir verwandt sein, wahrscheinlich steckt hinter seinem großmütigen Angebot mein Vater. Aber so genau will ich gar nicht hinschauen. Ich bin neunzehn und komme mir alt vor wie eine Schildkröte. Ich möchte aus meiner Schale heraus. ›Es muß etwas geschehen.‹ Alle Emigranten spüren das; ich höre es zehnmal jeden Tag. Ich habe mir einen Termin gesetzt. Ich warte noch bis zum 15. Mai. Wenn Ihr Jacques Tüverlin bis dahin nicht funktioniert hat, dann akzeptiere ich das Schiffsticket und die zweihundert Dollar, die mir Akron, Ohio, zur Verfügung stellt, und mache eine Zeitlang in Gummi. Sagen Sie selber, Tschernigg, und Sie, Professor Trautwein«, schloß er mit bösartiger Sachlichkeit, »was ist sinnvoller: Gummi zu fabrizieren oder Kurzgeschichten?« Er saß in dem ausgesessenen Lehnstuhl, ein Bein übergeschlagen, er sprach beiläufig, in die Luft, doch seine weit auseinanderliegenden Augen schauten hinauf zu der niedrigen, mißfarbenen Decke des Zimmers, als verlören sie sich ins Blaue.
Sepp Trautwein wußte nicht, was er von dem Gerede halten sollte. Stak irgend etwas Ernsthaftes dahinter? War es Affektiertheit? Verzweiflung? Er beschaute das glatte, edle Gesicht Harrys, das aussah, als könne seinem Träger keine Not etwas anhaben. Nein, die Geschichte mit dem Brief aus Amerika war erfunden, oder wenn etwas daran sein sollte, dann war es etwas ganz Vages. Der Junge machte sich einfach über ihn lustig. »Welchen Termin haben Sie sich gesetzt«, begnügte sich Trautwein zurückzufragen, »den 15. Mai?« – »Ja«, erwiderte freundlich Harry, »es ist ein Dienstag.«
4
Hanns lernt Russisch
»Ich muß in die russische Stunde«, erklärte Hanns. In den letzten Wochen verbrachte er die Abende häufig auswärts, und Anna hatte sich daran gewöhnt, es schweigend hinzunehmen. Heute wollte sie nicht. Sie schuftete sich ab bei Wohlgemuth, ihr oblagen die vielen kleinen Geschäfte, die ihrem Mann und ihrem Sohn zu lästig waren; das war der ganze Anteil, den die beiden sie an ihrem Leben nehmen ließen. Sie wollte sich das nicht länger gefallen lassen. »Wozu lernst du eigentlich Russisch?« fragte sie streitbar.
Hanns verstand es, daß die Mutter über seine Heimlichkeit aufgebracht war. Sie hatte recht. Es war feig von ihm, daß er den Eltern nicht schon lange gesagt hatte, wozu er Russisch trieb. Er gab sich einen Ruck. Er wird jetzt sprechen. Er schaute nach der Wanduhr: in zwanzig Minuten muß er fort, das trifft sich günstig. Er hat gerade Zeit genug, auseinanderzusetzen, was auseinanderzusetzen ist, und einen willkommenen Vorwand, abzubrechen, wenn die Geschichte ins uferlose zu geraten droht.
»Wozu ich Russisch lerne?« fragte er zurück. »Es hat keinen Sinn, daß ich es noch länger vor euch verstecke: ich will nach Moskau, dazu lern ich Russisch.« Und da die beiden erschreckt, mit einer fast lächerlich gleichartigen Bewegung, die Köpfe hoben, beeilte er sich hinzuzufügen: »Es wird noch seine Weile haben. Es ist schwer, nach Moskau zu kommen, es ist ein langer Weg dorthin, aber ich bin sicher, daß ich es schaffen werde.« Er hatte versucht, gleichmütig zu sprechen; aber nun er fertig war, atmete er heftig und errötete langsam über das ganze, zarthäutige Gesicht.
Den Bruchteil eines Augenblicks war Sepp voll von maßlosem Zorn. Doch sogleich rief er sich zur Ordnung. Ich muß mich derfangen, befahl er sich. Das hab ich doch vorausgesehen, daß es so kommen muß. Bauen muß er, dachteer weiter, und an die Kommunisten glaubt er. Da ist es doch natürlich, daß er nach Moskau will. Das würde ich an seiner Stelle genauso machen. Nach Moskau. Er wird dort einiges erleben. Es werden ihm dort einige Lichter aufgehen. Sie werden ihm schon das Grobe abräumen, die Herren in Moskau. »Warum willst du denn nach Moskau, Bub?« fragte
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