Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
rumänischen Stadt. Er hatte die Talmudschule besucht, sich beflissen und erfolgreich an den Geschäften seines Vaters beteiligt, früh geheiratet und bis zum Beginn des Krieges in seiner Heimat ein Leben geführt, das ihn durchaus befriedigte. Es war ihm geglückt, sich vor dem Kriegsdienst im rumänischen Heere zu drücken, aber dann hatten die Deutschen seine Heimatstadt besetzt und ihn gezwungen, in der Feuerlinie zu schippen. Der Rückzug der deutschen Heere hatte Herrn Gingold mit ins Deutsche Reich gerissen, er hatte sich in Berlin angesiedelt und Frau und Kinder nachkommen lassen. Sein rascher Blick für die Wirtschaft von morgen hatte ihm ermöglicht, innerhalb kurzer Frist Herr eines ansehnlichen Teiles deutscher Erde zu werden mit guten deutschen Häusern darauf. Die Deutschen hatten »ihren lieben Juden« große Versprechungen gemacht, Herr Gingold hatte erwartet, sie würden ihn und die Seinen von den Bedrückungen eines antisemitischen Regimes befreien, er hatte ihnen nach seinen bescheidenen Kräften geholfen. Dafür hatten sie ihn gegen alles Völkerrecht zum Kriegsdienst gepreßt, zur schwersten und gefährlichsten Arbeit. Nein, Herr Gingold hatte diesen Deutschen gegenüber nicht nur keinerlei Verpflichtungen, er hatte Ansprüche an sie, und er sah keinen Anlaß, sich nicht seinen Teil an jener Segnung der Bibel zu nehmen: »Du sollst in Häusern wohnen, die du nicht gebaut hast.« Die Nazi ihresteils versuchten durch harte Steuervorschriften und scharfe Devisenverordnungen Herrn Gingold einen Teil des Erworbenen wieder abzujagen. Er begegnete ihrer Schlauheit mit noch größerer, er warf seine Haut ab und verwandelte sich in die »Verwertungsgesellschaft für Hausbesitz«, in die »Internationale Grundstückskasse« und ähnliche schwer faßbare ausländische juristische Personen. Da die Machthaber des Reichs also gegen seine List nicht aufkamen, bedienten sie sich jener brutalen Gewalt, mit der sie ihm schon einmal begegnet waren, erließen Sondervorschriften gegen ihn und die Seinenund schmissen ihn, den sie zuerst zum Dank für geleistete Kriegsdienste unter Versprechungen in ihr Land gelockt hatten, unter wüstem Geschimpfe wieder hinaus, einen großen Teil seines Besitzes »enteignend«. Der größere Teil aber gehörte jenen ausländischen Gesellschaften, in die er sich verwandelt hatte, und in dieser Gestalt führte er jetzt von Paris aus seinen Privatkrieg gegen das Reich, um von seinem Geld möglichst viel wieder herauszuholen.
    Da sitzt er, Herr Louis Gingold, in seiner Wohnung in der Avenue de la Grande Armée; es ist eine geräumige Wohnung in einem großen, häßlichen Haus, das übrigens auch bereits Herrn Gingold gehört. Die Wohnung ist üppig, aber unordentlich möbliert, sie sieht eher aus wie ein Möbelmagazin, Herr Gingold hat aus Deutschland aus manchen Wohnungen manche Möbel gerettet. Da sitzt er also zusammen mit zwei Töchtern, Sohn und Sekretär, frühstückt und liest seine Post. Er ist oft genötigt gewesen, seine Geschäfte unter schwierigen Umständen zu betreiben, und es stört ihn nicht sehr in der Lektüre seiner Post, daß seine Tochter Ruth Klavier spielt, seine Tochter Melanie mit dem Mädchen herumschimpft, sein Sohn Sigbert mit lauter Stimme Regeln der griechischen Grammatik lernt und sein Sekretär Feinberg telefoniert.
    Es bedarf, wie man sich denken kann, rascher Kombination und eines geschulten Gedächtnisses, um sich durch die verwickelte Korrespondenz Herrn Gingolds durchzufinden. Herr Louis Gingold aber und sein Sekretär Feinberg wissen in ihren auf vielerlei Art getarnten Geschäften gut Bescheid und können sich mit halben Worten verständigen. Sie reden in einer Chiffrensprache. Herr Gingold knarrt Herrn Feinberg ein paar Worte zu, Herr Feinberg macht an den Rand eines Briefes ein paar stenographische Zeichen, und daraufhin setzen sich Richter und Finanzbehörden in Bewegung. Schicksale entscheiden sich, Geschäftsbetriebe können eröffnen oder müssen schließen, Familien verlieren ihre Wohnungen.
    Da sitzt also Herr Gingold, er tunkt sehr süßen Kuchen, der mit einem Gemisch aus Butter, Honig und gebrannten Mandelnbeschmiert ist, in seinen Kaffee, ein bißchen Eigelb ist in seinem viereckigen, grauschwarzen Bart hängengeblieben, er ißt hastig, mit vielen Geräuschen, er schüttet dazwischen einen Schluck aus seiner Tasse hinunter, und er wischt sich immerzu die Hände an der Serviette ab, um die Briefe nicht zu beschmutzen, die seine

Weitere Kostenlose Bücher