Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
gebracht, ob er denn ganz von Gott verlassen sei. Erst aus dem, was jetzt geschehen war, hatte Trautwein die Drohung Harrys, sich nach Amerika einzuschiffen, ganz verstanden; scharfe Reue nagte ihn, und diese Reue suchte er durch wüste Anklagen Tscherniggs zu betäuben.
Lange redete er auf den Daliegenden ein. Der erwiderte nichts, blinzelte nur. Schließlich erkannte Trautwein, daß Tschernigg stumpf war und nicht fähig, seine Worte aufzunehmen.
Andere hatten sich herumgestellt. Sie berichteten, auch die Polizeiagenten hätten aus Tschernigg nichts herausbekommen, nach dem Verhör sei er vollends zusammengebrochen. Die ganze Gesellschaft, mit der Harry Meisel und Tschernigg gesumpft hätten, sei offenbar stinkbesoffen gewesen. Ihr Geld hätten sich die beiden auch stehlen lassen. In Harrys Taschen habe man nichts mehr vorgefunden als die Schiffskarte für Amerika und ein Präservativ. Der Vorfall sei eine Schande für die ganze Emigration.
Trautwein überließ Tschernigg, der ausgeleert auf seinerMatratze lag, sich selber. Er ging zur Verwaltung der Baracke, er wollte versuchen, Harry Meisels literarischen Nachlaß zu retten. Es ergab sich, daß man, was zu finden war, der Polizei ausgehändigt hatte. Trautwein ging zurück in den großen Schlafraum. Schon sollte Harrys Matratze von einem Nachfolger eingenommen werden. Trautwein wühlte selber in der schlechten, strohigen Füllung. Ein schmaler Lichtbalken fiel über die Matratze und über Tscherniggs schwammiges Gesicht. Der grunzte, stöhnte, versuchte sich hochzurichten, es gelang ihm nicht. Er nahm sichtlich wahr, was Trautwein tat, er billigte es nicht, aber er konnte nicht reden. Er schaute ihm zu, wortlos, die vorquellenden Augen über der kleinen Nase blinzelten finster; er war wie ein alter, kraftloser Hund, dem man einen Knochen wegnehmen will.
Sepp Trautwein wühlte einiges Manuskript heraus. Dann fuhr er auf die Präfektur. Nach etlichem Hin und Her versprach man, ihm den schriftlichen Nachlaß Harry Meisels zuzustellen, sowie die Untersuchung abgeschlossen sei. Er wollte die Leiche sehen, sich um die Bestattung kümmern. Doch Harrys Körper war bereits auf der Anatomie.
Die ersten, notwendigen Verrichtungen hatten Trautwein abgelenkt von jenen Gedanken, die sich gegen ihn selber kehrten. Nun, da es nichts mehr zu tun gab, saß er auf der Redaktion, lahm und leer vor Erbitterung, Trauer, Reue, schier erdrückt vom Gefühl ungeheurer Ohnmacht. Er sah vor sich das blasse, stumpfe Antlitz Tscherniggs, er fühlte sich ebenso schlaff.
Er hat Harry Meisel geliebt, bewundert und sich bemüht, ihm seine Freundschaft und Hilfsbereitschaft zu beweisen. Der junge Mensch aber hat für ihn nichts gehabt als ein Achselzucken, er hat ihn stehenlassen und sich fortgemacht. Was dieser tote Harry Meisel für ihn verspürt hat, das war die Verachtung des Genies für den Unbeschwingten. Da saß er jetzt, er, Sepp, im Gefühl der eigenen Nichtigkeit. Der Tote hatte recht, die andern alle hatten recht mit ihrem Unglauben, ihrem Pessimismus, ihrem Nihilismus, und er mit seinem Glaubenwar der Depp. »Der starke Mann ficht«: einen Schmarrn. »Quand même«: einen Schmarrn. Es kommt so, wie es die andern wollen, die Blutsäufer, und das Schicksal scheißt auf seinen Trotz. Er ist ganz ausgehöhlt vom Gefühl der eigenen Schwäche. Wie soll einer, der nicht einmal einem einzigen Menschen hat helfen können, wie soll der etwas für ein ganzes Land ausrichten? Alle werden zugrunde gehen, Friedrich Benjamin, er selber, alle, genauso, wie dieser Harry zugrunde gegangen ist.
Ist er zugrunde gegangen? Da ist noch das »Sonett 66«. Das »Sonett 66« ist der Sinn von Harrys Leben, es ist das Aufbäumen eines einzelnen gegen das hereinbrechende Nichts, es ist das »quand même«. Das Messer des Strizzi hat den Körper Harrys erledigt, aber dem »Sonett 66« hat es nichts anhaben können. Das »Sonett 66« wird leben, wenn kein Hahn mehr kräht nach denen, die heute so gewaltig das Maul aufreißen.
Viel indes halfen Trautwein solche Erwägungen nicht. Harrys sinnloser Untergang zehrte weiter an ihm und zerfraß seinen Glauben.
Um den eigenen Gedanken zu entfliehen, schloß er sich immer enger an Tschernigg an. Mit ihm und dem alten Geheimrat Ringseis saß er zusammen im Café Zur guten Hoffnung, wo sie das letztemal mit Harry zusammengesessen waren. Tschernigg hockte da, speckig, dreckig, mürrisch und böse. Ringseis lächelte mild, etwas abwesend, in sanfter Verkommenheit; er
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