Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
sah alt und kränklich aus, der ganze Mann zerbröckelte geradezu. Auch äußerlich kam er immer mehr herunter, sein Anzug wurde fadenscheinig, seine Wäsche zerschliß, niemand sorgte für ihn. Aber er schien sich nicht zu grämen; er war ohne Bedürfnis und freute sich, alle Pflichten los zu sein.
    Manchmal meditierte er laut. »Er war zu jung«, erklärte er einmal den andern Harrys Ende. »Er hat nicht warten können. So gewiß die Heimkehr des Odysseus kommen wird, manche können sie nicht abwarten. Einige, weil sie zu altsind. Harry war zu ungeduldig, weil er zu jung war«, und die stillen Worte des Alten sickerten in Sepp Trautwein ein.
    Zuweilen wohl, wenn die drei Männer so zusammenhockten, begann Oskar Tschernigg zu knurren und sich zu ereifern. Die letzten Worte, die Harry für ihn gehabt hatte, waren Hohn gewesen, berechtigter Hohn, und sie fraßen an ihm. Gute Verse schreiben, das war kein Kunststück; gute Prosa schreiben war viel mehr. »Meine Prosa hat mir von jeher mehr Zeit gekostet als Verse«, hatte Lessing bekannt, und Nietzsche: »An einer Seite Prosa muß man arbeiten wie an einer Bildsäule.« Harry Meisel hatte es geschafft, seine Prosa war neu und kühn und meisterlich. Trotzdem hatte er sich nicht genügt. Er war fortgegangen, hochmütig, hatte seine Kunst und sich selber hingeworfen und ihn, Tschernigg, allein gelassen mit seinen frechen Versen, mit dem alten Narren Ringseis und mit Sepp, diesem traurigen Kleinbürger.
    Es war nichts los mit ihm, Oskar Tschernigg. Mit dem ganzen anarchistischen Individualismus, den er sein Leben hindurch gepredigt, war nichts los; er, Tschernigg, hatte sich gräßlich überhoben. »Wieviel bist du von andern unterschieden? Erkenne dich, leb mit der Welt in Frieden.« Aber selbst wenn er es wollte, er könnte nicht einmal mehr mit der Welt im Frieden leben, er hat es sich verscherzt. Immer dringlicher bedeutete man ihm, er solle sich aus dem Asyl hinausscheren. Daß er Geld gehabt und es verschwiegen hatte, verstieß gegen die Hausordnung, das Asyl stand nur den Elendesten der Elenden offen, dieser waren viel mehr, als die Baracke Plätze bot, man knurrte Tschernigg an und verlangte von ihm, daß er endlich türme. Tschernigg pfiff auf Würde, in seinem jetzigen Zustand war es ihm höchst gleichgültig, wenn man ihn anschrie und beschimpfte; aber er wollte nicht wieder unter den Pfeilern der Seinebrücken schlafen wie schon einmal, er hatte Angst davor. Das sanfte, anspruchslose Leben des alten Ringseis gefiel ihm, er wollte keine neuen Erfahrungen mehr, er wollte Ruhe, er sehnte sich nach Ruhe.
    Er setzte dem verblüfften Trautwein die Theorie auseinander,die er sich nach dem Untergang Harry Meisels zurechtgezimmert hatte. Die Zeit für den reinen Individualisten, die Zeit des einzigen, ist noch nicht gekommen oder schon vorbei. In unserer Epoche, da auf der einen Hälfte der Welt ein despotischer Kapitalismus, auf der andern ein diktatorischer Sozialismus herrscht, ist der einzelne verloren, wo immer er steht. Das ist es, was heutzutage die Lage des Emigranten so traurig und grotesk macht. In früheren Zeiten konnte der Emigrant, gerade weil er auf sich allein angewiesen war, innerlich und äußerlich wachsen. Das Schicksal Ahasvers war häufig tragisch, aber es war groß. Heute ist es lächerlich. Heute ist der Emigrant ein Häuflein Dreck und Spreu. Heute ist man verloren, wenn man nicht einer Gruppe angehört, einer Klasse, einer Nation, einer Clique. Vereinzelung, Vereinsamung, in günstigeren Zeiten ein Segen, wird heute zum Fluch und zum Gelächter.
    Tschernigg wollte also aus dem Asyl hinaus in eine gesicherte Unterkunft. Er wollte ein kleines Zimmer, das Minimum für Essen und Kleider, irgendeine bezahlte Tätigkeit. Er wußte, Sepp konnte ihm da nicht helfen. So wandte er sich an Anna. Häßlich, schwammig, fahl stand er vor der Überraschten; jetzt, mit zunehmendem Frühling, traten seine Sommersprossen noch mehr hervor, fatal grinste er mit seinem Froschmaul, und mit seiner sanften, hohen Kinderstimme bat er Anna, ihn vor dem Äußersten zu bewahren und ihm mit ihrer bewährten Bereitschaft zu einer Stellung zu verhelfen.
    Erstaunt, leicht angewidert, schaute sie auf den häßlichen Menschen. Das, was Sepp an Tschernigg anzog, das Romantische, Dreckige, bohèmehaft Freche, rührte auch sie an, aber es stieß sie gleichzeitig ab. Er saß vor ihr, schmutzig, fett, und redete süßlich und, wie ihr schien, ein wenig ironisch auf sie ein. Was

Weitere Kostenlose Bücher