Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Tschernigg aufgefallen, mit einem eckigen, leichenhaften Gesicht und einer schmetternden Stimme. Den hatte Harry Meisels Erfolg verdrossen; er, der Klumpfüßige, hatte offensichtlich Einfluß auf die Frauen, aber ihn fürchteten sie, und Harry flogen sie zu. Der Kalkgesichtige hatte also Streit mit Harry gesucht, er hatte ihn in platten, wirksamen Sätzen als romantisch verstiegenen Dummkopf hingestellt, so daß die Runde über Harry lachte. Sowie indes Harry nur den Mund auftat, verstummte das Lachen, und das banale Zeug des andern war weggewischt. Ja, so lässig und vornehm sich Harry gab und sowenig Konzessionen er dem Geschmack dieses Pöbels machte, alle hatten ihn verstanden, und alle waren ihm zugetan gewesen.
Wie es schließlich zu der Rauferei und Stecherei gekommen war, das war Tschernigg dunkel und wird für immer dunkel bleiben. Erbittert suchte er in seinem Gedächtnis. Er sagte sich den lateinischen Vers vor, der angab, was man von einem Ereignis wissen müsse, um es richtig schildern zu können: »Wer? Was? Und wo? Wie? Wann? Und warum? Und mit welcher Hilfe?« Aber von diesen Fragen konnte er nur das Was und das Wo beantworten und das Wann und das Womit; aber nicht wußte er das Wie und das Warum und vor allem nicht das Wer. Als die Polizeiagenten ihn befragten, verhedderte er sich und erklärte schließlich immer nur, er wisse es nicht, er finde sich nicht mehr zurecht. Dabei war er ganz sicher, daß es der Kleine gewesen war, der Kalkgesichtige, der Klumpfuß. Aber das war eine Sicherheit seiner Seele, keine Sicherheit, mit der Akten, Polizei und Gericht etwas hätten anfangen können. Auch die andern konnten oder wollten nichts Rechtes aussagen; niemand wußte, wer zugestochen hatte, wie und warum.
Ein Tiefes in Tschernigg sehnte sich danach, es dem Kalkigen heimzuzahlen, am liebsten nicht auf dem Umweg über die Polizei, sondern selber, mit eigenen Händen, und er erging sich in Vorstellungen, wie er das Leichengesicht triumphierend zu einer wirklichen Leiche machen wird. Doch einnoch Tieferes sagte ihm, daß, selbst wenn er das erreichte, damit nicht das geringste getan und weder ihm selber noch seinem toten Freund ein Dienst erwiesen wäre. Der ist in seinem Hades bestimmt nicht durstig auf das Blut des Kalkgesichtigen. Nicht um das Kalkgesicht ging es; was dahinterstand, darauf kam es an. Nicht das Kalkgesicht hatte Harry gefällt, sondern eben das, was dahinterstand: das Gemeine, jenes schlechthin Pöbelhafte, das aus seiner Natur heraus das Begabte haßt. Niemand hatte das besser gewußt als Harry selber. Er hatte immerzu gesprochen von der Tücke und dem Haß der seelisch Schlechtbedachten gegen die Begabten. Es war dieser Haß der Unbegabten, der Harry gefällt hatte.
Merkwürdig und quälend, was für eines Werkzeugs sich das Schicksal bedient hatte. Denn wenn man es recht erwog, trug er selber, er, Tschernigg, die Schuld an Harrys Untergang. Er hatte ihm die Idee dieses Abends eingegeben. Er hatte den schlechten Blick. Vielleicht hatte Anna Trautwein recht, daß sie scheel sah, wenn er mit Sepp zusammen war. Was er anrührte, ging übel aus, mit wem er zusammenkam, der verdarb.
»Wer? Was? Und wo? Wie? Wann? Und warum? Und mit welcher Hilfe?« Unsinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Es ist ganz uninteressant, ob das Kalkgesicht das Werkzeug von Harrys Untergang war oder er selber, Tschernigg. Harry Meisel hat sich, das allein ist das Wesentliche, aus dieser Welt des Gemeinen herausgesehnt, er hat weiter gehen wollen als nach Amerika, er hat sich nach dem Untergang gesehnt. »Müd alles des, schrei ich nach Ruh im Tod.« Es war sein eigener Wunsch, umzukommen, er hat sich selber zerstört, und er hat recht getan, in dieser entseelten Welt nicht weiterzuleben.
12
Der einzige und sein Eigentum
Als Sepp Trautwein die Nachricht vom Ende Harry Meisels hörte, saß er eine Weile an seinem Schreibtisch in der Redaktion, lahm und dumm vor Schreck, den Mund halb offen. Dann raffte er sich zusammen und fuhr in die Emigrantenbaracke.
Im hellen Licht des späten Vormittags sah der große Schlafraum trostlos kahl aus. Tschernigg lag auf seiner Matratze, bis ins letzte erschöpft, noch verkommener als sonst, das fahle, gedunsene Babygesicht überstoppelt. Ohne auf die Gegenwart der andern zu achten, fiel Trautwein über ihn her und überschüttete ihn mit Vorwürfen: was ihm eingefallen sei, mit Harry so gefährliche Lokale aufzusuchen, wahrscheinlich habe er selber ihn noch dahin
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