Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Millionen. Diese Rechnung leuchtete Harry ein, sie gefiel ihm, und mit einem kleinen, beinah erfreuten Lächeln stimmte er Tschernigg zu und willigte ein, mit ihm am Mittwoch die »Bombe« zu machen. Eine solche »Bombe«, das war eine gute Weise, von Europa und von seinem Bisher Abschied zu nehmen.
Tschernigg atmete auf. Er freute sich unmäßig, daß der Junge Trautweins mit keinem Worte gedacht hatte. Auchseine Furcht war fort, er könne an diesem letzten Abend sentimental werden, wovor er sich und den Freund unter allen Umständen bewahren wollte, und er freute sich geradezu auf den Mittwochabend.
Wenn sich Oskar Tschernigg später dieses Abends erinnerte, dann geriet ihm manches durcheinander; er erinnerte sich vieler Einzelheiten, aber die Zusammenhänge konnte er nicht mehr herstellen. Er erinnerte sich, wie Harry das Asyl verlassen hatte, mit einer hochmütigen Geste auf seine Matratze weisend: »Da drinnen liegt der Rest meiner gesammelten Werke«, und wie sie sich dann in einem Café der Innenstadt getroffen hatten. Harry hatte großartig ausgesehen, sehr adrett, doch durch eine kühne, flatternde Krawatte aus der üblichen bürgerlichen Geschniegeltheit herausgehoben. Er selber, Tschernigg, war übrigens beim Friseur gewesen, dem Freunde zu Ehren, und hatte sich auch eine neue Jacke gekauft. Aber Harry, und das hatte ihn beinahe gekränkt, hatte sich darüber nur lustig gemacht.
Überhaupt hatten sie sich an diesem Abend besonders viel gezankt, eigentlich war ihre ganze Unterhaltung lauter Gezänk gewesen. War das an ihm gelegen? War er so streitbar gewesen, oder war Harry schuld daran? Es waren lauter Nichtigkeiten, um die sie sich ereifert hatten, der Wortlaut eines Shakespeare-Verses, das vermutliche Alter einer Frau, die gerade vor ihnen auftauchte. Doch diese Streitigkeiten waren sogleich bösartig geworden, jeder hatte sich bemüht, den andern an seiner wundesten Stelle zu treffen. Wenn Tschernigg jetzt darüber nachdachte, war es ihm unbegreiflich, wieso er sich dazu hatte hinreißen lassen.
Auch daran erinnerte sich Oskar Tschernigg, daß man viel Geld vertan hatte, unerhört viel. Nicht nur war so ziemlich alles flötengegangen, was er, Tschernigg, mitgenommen hatte, ein großer Teil seiner weiland achtzehnhundert Franken, sondern auch ein ansehnlicher Betrag aus dem Dollarbestand Harry Meisels. Ziemlich viel dürfte in dem Bordell Quisisanaverschwunden sein, das übrigens hinter seinem Ruf weit zurückblieb; auch anderorts waren sie wohl kräftig bestohlen worden.
Soweit Tschernigg sein Gedächtnis nicht trog, war man zuerst in einer Revue gewesen, dann in einem eleganten Tanzcafé, dann in einem Kabarett, dann hatte man sich Kneipen und Bordelle in den Vorstädten angeschaut. Dazu hatte man tiefgründige und bittere Gespräche geführt. Tschernigg hatte seine schönsten Verse rezitiert und Harry Meisel über das wohlfeile literarische Gift, das er da fabriziere, so abgründig Gemeines geäußert, daß Tschernigg jetzt noch das Herz stockte, wenn er daran dachte.
Dann, das war schon spät gegen Morgen, war man in einer Gesellschaft merkwürdiger Leute gesessen, die meisten waren wohl Herren vom Milieu gewesen, einige befrackt, einige in gestreiften Sweatern, und Harry hatte die Runde zu großartigen Drinks eingeladen. Er hatte aus dem vollen gespendet; »wer nicht zuviel hat, hat zuwenig«, hatte er geäußert. Er hatte die letzten Höhen der Erkenntnis und Blasiertheit erklommen, er selber war, Tschernigg verhöhnend, Koheleth gewesen, der Prediger Salomonis, und der Shakespeare des »Sonetts 66« und vor allem eben immer wieder jener Harry Meisel, der alles durchgekostet und alles als eitel verworfen hatte. Wenn sich Tschernigg jetzt Fetzen zurückrief von dem, was Harry gesagt hatte, dann kam er sich selber wie ein Wahnsinniger vor, daß er sich und Harry diesen ihren letzten Abend mit Erlebnissen und Erkenntnissen aus der Gosse hatte anfüllen wollen. Dieser Harry hatte ja in Wahrheit alles durchgekostet: was sollte da seine läppische Farce?
Auch Frauen waren in der Tischrunde gesessen, die meisten waren auf den prinzlichen Harry Meisel geflogen, er hatte es sich gefallen lassen, höflich und doch sehr fern, und dann war ein Augenblick gekommen, da hatte er zu ihm, Tschernigg, gesagt, doch eher befriedigt als verzweifelt: »Jetzt hab’ ich das nackte Billet für Amerika, nichts sonst. Jetzt, glaube ich, ist es besser, ich gehe noch weiter fort.«
Ein Kleiner, Hinkender war
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