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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Nihilismus sein Herz so an den Jungen gehängt, daß er nicht wußte, was er ohne ihn anfangen sollte. »Geh an der Welt vorüber, es ist nichts«, das konnte man sich leicht hundertmal vorsagen, und ehe er Harry gekannt, hatte er auch danach leben können. Aber jetzt mußte er Harry halten, der durfte nicht fort, es war unmöglich. Was sich denn nun eigentlich hier geändert habe, redete er auf Harry ein. Ob er nicht, wenn er schon des Asyls überdrüssig sei, hier in Paris oder in London oder wo sonst immer weiterleben wolle. Er, Tschernigg, habe ja noch immer die achtzehnhundert Franken, das heißt, es seien jetzt sechzehnhundert, aber für den Anfang könne man sich damit einrichten. Und was er sich denn von Akron, Ohio, anderes verspreche als von hier.
    Mehr und mehr, wie er sich so ereiferte, sah er einem traurigen Baby gleich. Harry kam sich immer erwachsener vor. »Was wollen Sie?« versuchte er einen matten Scherz. »Wenn es wenigstens ein Napoleon gewesen wäre oder ein Cäsar, der einen aus seiner Heimat vertrieb, oder wenn Sie noch weiter zurückpflocken wollen, ein Attila oder ein Dschingis Khan. Aber ein Herr Hitler: mein Lieber, ich bitte Sie. Soll man in einem Erdteil weiterleben, der einen Herrn Hitler so ernst nimmt?« – »Aber was um Gottes willen«, ereiferte sich Tschernigg, »versprechen Sie sich von Amerika? Dort nimmt man irgendwelche andern Monstrositäten ernst. Oder erwarten Sie sich anderes?«
    »Ich erwarte mir durchaus nichts anderes«, erwiderte freundlich und gleichmütig Harry Meisel. »Im Gegenteil, ich erwarte, daß Amerika völlig entseelt ist. Ich finde das besser als dieses Europa, in dem noch ein Rest von Seele lebt. ›O Seele, um und um verweste, / Kaum lebst du noch und noch zuviel.‹ Finden Sie nicht, daß das sehr schöne Verse sind? Sie könnten von Ihnen sein«, scherzte er.
    Tschernigg sah das stille, höfliche Gesicht des Jungen, es war ihm bitter leid, daß der ihm seine wahren Gründe nicht sagen wollte. Er ahnte etwas von diesen wahren Gründen. Wenn er sich mit Harry über Erleben und Nichterleben herumgezankt hatte, so war das dem offenbar mehr gewesen als ein Wortstreit. In letzter Zeit hatte Harry öfters Rimbaud zitiert, der in sehr jungen Jahren das Dichten aufgegeben hatte und ein harter, abenteuerlicher Geschäftsmann geworden war. Der Junge fühlte sich ins falsche Wasser geraten, er war aus dem lebendigen Strom in Brackwasser gekommen. In der Erbärmlichkeit und Ödnis dieser deutschen Emigration konnte er nicht existieren, es war keine Hoffnung, daß er hier ein Erleben finden werde, das ihm gemäß war. Tschernigg schalt sich einen Esel im Quadrat, daß er nicht längst bemerkt hatte, was in Harry vorging, und daß er nicht dieses amerikanische Projekt bekämpft hatte, ehe es sich in dem andern so unausreißbar eingewurzelt.
    In der ersten Panik dachte Tschernigg daran, Trautwein zu Hilfe zu rufen. Aber er sagte sich, Trautwein mit seiner lärmenden, kleinbürgerlichen Gutmütigkeit werde über den Jungen noch weniger vermögen als er selber. Sein Hirn erkannte, der Junge war schon fort von ihm, weit fort, doch sein Herz konnte sich nicht darein finden. Er konnte es sich nicht vorstellen, daß er, Tschernigg, hierbleiben werde in diesem Paris, während der Junge über den Ozean fuhr, er konnte sich ihn nicht in Le Havre vorstellen, geschweige denn in New York oder in Akron, während er selber, Tschernigg, in Paris blieb.
    Ein klein wenig tröstete es Tschernigg, daß Harry an Trautwein mit keinem Gedanken zu denken schien. Harry war offenbar schon seinem ganzen bisherigen Leben gegenüber gleichgültig geworden. So hatte ihn Tschernigg wenigstens in diesen letzten Tagen ganz für sich.
    Der Dienstag kam, und mit ihm das erwartete Geld. Tschernigg griff plötzlich und unbedacht den früheren Vorschlag Sepps auf und meinte, sie sollten an ihrem letzten Abend, am Mittwoch, ungeheuer bummeln, auf die verschwenderischste Art. Noch während er sprach, fiel ihm ein, daß die Idee von Trautwein stammte, er ärgerte sich über sich selber und war auf einmal schrecklich eifersüchtig auf Trautwein. Um seine Bestürzung zu verstecken, sprach er schnell weiter. Sie hätten jetzt ja beide, setzte er Harry auseinander, ungeheuer viel Geld; ein Mann, der an einem Tag fünfhundert Franken ausgeben könne, sei gleichzustellen mit einem Mann, der über eine Rente von dreihundertfünfundsechzig mal fünfhundert Franken verfüge und also über ein Vermögen von fünf

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