Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Meisel geschrieben hatte. Der brillante Essay weckte in ihm Neugier, und voll innerer Gespanntheit machte er sich an die Lektüre des Buches.
Er las. Er vergaß, daß er in Arcachon war und daß er heute neunzehn Jahre alt wurde und daß es Sommer war. Er las. Daß es das gab. Daß einer so schreiben konnte, daß einer soviel gesehen und erlebt und verdaut haben konnte, daß einer so weise war, so bitter, so erhaben über Gut und Böse und Haß und Liebe; und nicht älter als neunzehn Jahre. Wenn dieser Harry Meisel lebte, Raoul hätte das nächste Flugzeug genommen, um zu ihm zu reisen und sich ihm an die Brust zu werfen. Er hätte ihn angebettelt, ihn zu seinem Freunde zu machen, oder vielleicht auch hätte er ihn umgebracht aus Eifersucht, daß einer neunzehn Jahre alt war und soviel konnte. Welch verdammtes Unglück, daß dieser Harry Meisel tot war. Welch ungeheures Glück, daß dieser Harry Meisel nicht mehr lebte, daß Platz frei war für ihn, für Raoul de Chassefierre.
Denn jetzt wußte er, was er zu tun hatte, was der Sinn seines Lebens war. Deutlich lag seine Bestimmung vor ihm. Welch ein Glück, daß ihn das Schicksal von dieser subalternen, widerwärtigen Beschäftigung mit der Politik weggerissen hatte. Welch ein Glück, daß seine Beziehungen zu Monsieur Wiesener dahin geführt hatten, daß der ihm die Bücher schickte. Welch ein Glück, daß er sich gleich an die Bücher gemacht hatte; denn so war er einen oder zwei Tage oder garschon eine Woche früher als sonst dazu gekommen, dieses kostbare Buch zu lesen, das seinem künftigen Leben Richtung wies.
Da gibt es Leute, die erklären, Literatur sei nur um ihrer selbst willen da und habe keine Wirkung. Was für Narren. Kann einer das Buch dieses Harry Meisel lesen und unbewegt bleiben und sein Leben fortführen wie bisher? Ihn hat es gelehrt, daß alles, was er bis jetzt gelebt hat, Zeitverschwendung war, barer Unsinn.
Tagelang ging er umher unter dem Eindruck des Buches. Er studierte jedes Wort, jeden Buchstaben. Die Welt wurde ihm anders, das Innere der Menschen und der Dinge ging ihm auf. Er war neunzehn Jahre und alt wie eine Schildkröte. Nichts bestand vor ihm; gerade weil er erkannte, wie nichtig die Dinge waren, wurde er leicht mit ihnen fertig.
Ihm aber blieb es vorbehalten, die Weisheit Harry Meisels, die in Spiralen hochstieg, noch eine Spirale höher zu führen. Die Dinge waren wertlos, weil sie vergänglich waren; einen Wert aber hatten sie: sie waren, sie waren da. Diesen Wert, die Existenz an sich, das Dasein an sich, den konnte man doppelt schmecken, wenn man einmal die Vergänglichkeit der Dinge ganz erkannt hat. »Besser ein Hund, der lebt, als ein Löwe, der hin ist; denn die Lebenden wissen, daß sie sterben werden, aber die Toten wissen gar nichts.«
Der Sinn seines Lebens war ihm klargeworden. Das Lebendige schmecken hieß: es darstellen, seine Vergänglichkeit festhalten.
Der ihm nächstliegende Stoff der Darstellung war er selber, das vergängliche Ich Raoul de Chassefierre. Er studierte diesen seinen Stoff und das, woraus er gemacht war, Monsieur Wiesener und seine Mutter. Er stellte im Geist Monsieur Wiesener vor sich hin und drückte seinen Grimm gegen ihn hinunter, so wie Harry Meisel Hassen und Lieben hinuntergedrückt hatte, er musterte Monsieur Wiesener, er durchsuchte ihn, neugierig, wissenschaftlich, mit der Sachlichkeit eines Zollbeamten. Dann begann er zu schreiben.
Er ordnete, er baute, wie er es am Vorbild Harry Meisels gelernt hatte. Es wuchs, es wurde. Kraftgefühl durchströmte ihn, er war der Fortsetzer, der Jünger, der Vollender Harry Meisels.
Obwohl sich Wiesener seit Jahren das erstemal keine Ferien gönnte, sondern den ganzen Sommer über in dem heißen, staubigen Paris blieb, war er gut in Form und arbeitete leidenschaftlich, sowohl am »Beaumarchais« wie an seinen politischen Artikeln. Er handhabte die Methode, niederträchtige politische Angriffe so verblümt zu halten, daß sie keine Blößen boten, meisterlich wie kein zweiter, er galt unbestritten als der erste Journalist unter den Nationalsozialisten.
Die Abfassung seiner frechen, giftigen Elaborate machte ihm Freude, und er diktierte sie mit steigendem Vergnügen Maria, die feindselig dasaß und ihren Widerwillen nicht verbarg. Er durfte sich diesen Spaß leisten; die verdienstliche Arbeit am »Beaumarchais« machte wett, was an bösartiger Kleinlichkeit in seiner Zeitungsschreiberei stecken mochte.
Diese gesegnete Arbeit am
Weitere Kostenlose Bücher