Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
muß aus der Relativität heraus zum absoluten Entschluß gelangen. Zuviel Moral, zuviel Wissen, zuviel Bildung, zuviel Intellekt sind Eigenschaften, die dem führenden Politiker nur schaden können. ›Wer zuviel weiß, weiß nichts als Schall und Dunst‹«, schloß er.
Die Terrasse des Hotels, wo man zu Mittag aß, war voll von fröhlichem Lärm, ein großer Teil der Gäste saß in Badekostümen da, in leichten Strandmänteln, die bunten Sonnenschirme schatteten lustig über die Tische. »In solcher Allgemeinheit«, entgegnete Tüverlin, beschäftigt, seinen Fisch zu zerteilen, eine gebratene Seebarbe, »wie Sie sie da vorbringen, mein Herr, sind diese Grundsätze gefährlich.« Und da ihm dieser Satz vermutlich zu trocken und schulmeisterlich erschien, fügte er scherzend hinzu: »Solche Prinzipien könnte schließlich auch ein Erich Wiesener für sich anführen.«
Man lächelte, Wiesener selber lächelte, ein bißchen krampfig. Hatte Tüverlin bei der Vorstellung seinen Namen nicht verstanden? »Ich bin Wiesener«, sagte er höflich.
Jacques Tüverlin schob Fischgabel und Fischmesser säuberlich auf dem Teller zusammen. Dann stand er auf, sagte: »Schade um die schöne Seebarbe«, machte eine kurze Kopfneigung gegen die Gesellschaft und verließ den Tisch.
Es fiel Wiesener nicht leicht, gleichmütig bis zum Ende des Mittagessens auszuharren. Aber es gelang ihm. Dann, sobald es anging, entfernte er sich und fuhr zurück in sein St. Tropez.
Er fuhr an seinen einsamen Strand, er schwamm lange, um seine Wut aus sich herauszuarbeiten. Es traf ihn, daß ihn ein Mann wie Tüverlin derart beleidigt hatte. Anfeinden durfte man Erich Wiesener, aber verachten durfte man ihn nicht. Er sah vor sich das Gesicht Tüverlins, den vorspringenden Oberkiefer,die raschen, scharfen Augen. Sah seine kräftigen, sommersprossigen, rötlichblond behaarten Hände Fischgabel und Fischmesser auf dem Teller zusammenschieben. Hörte ihn mit seiner hellen, gequetschten Stimme sagen: »Schade um die schöne Seebarbe«, sah ihn sich entfernen, mager, schlenkerig. Unvermittelt dachte er an die Ohrfeige, die er Raoul gegeben hatte.
Nein, diesmal, in seinem Fall, war Jacques Tüverlin vorschnell gewesen. Tüverlin kannte nur eine Seite seines Wesens, er kannte nicht den »Beaumarchais«. Sein Urteil wird sich ändern, sowie er den »Beaumarchais« gelesen hat.
Wer nicht einseitig ist, hat es schwer in einer Zeit, die zertrennt ist durch eine große Barrikade; wer sich freihält von Vorurteilen, muß es auf sich nehmen, verkannt zu werden. Maria hat er verloren, es ist nicht angenehm, daß ihn Jacques Tüverlin so brüskiert hat, und auch Leas ist er keineswegs sicher. »Erkannt und verachtet«, stieg es plötzlich in ihm auf; es war die Überschrift eines Kapitels aus einem volkstümlichen, sentimentalen Roman, den er als Knabe gelesen hatte, und diese Worte: »Erkannt und verachtet«, mit ihrem simplen Pathos hatten sich ihm eingeprägt.
Des Abends saß er vor der Historia Arcana und suchte seine arg ramponierte Selbstachtung zusammenzuflicken. Er stärkte sich durch Betrachtungen über die Vortrefflichkeit des »Beaumarchais«. Bald aber und gegen seine ursprüngliche Absicht gingen seine Betrachtungen über in Meditationen über die glückliche Wahl des Stoffes. Dieser Stoff war ein Fund auch in Hinblick auf die äußere Laufbahn des Buches. Den Machthabern der Partei kann er seine Darstellung des »Beaumarchais« ohne weiteres als eine Ironisierung französischen Wesens plausibel machen, die Franzosen aber mit ihrem Gefühl für Nuancen werden auch ohne sein Zutun die Sympathie heraushören, die er für seinen Helden spürt. Er kann sich vor Deutschen wie Franzosen als ehrlicher Vermittler aufspielen, Verständigungsaktionen liegen in der Richtung der augenblicklichen Berliner Politik, sein »Beaumarchais« ist ein politisches Verdienst. Davonabgesehen, ist der literarische und der buchhändlerische Erfolg des Werkes in Deutschland sicher; denn da die Bücher aller jener, die schreiben können, innerhalb der Reichsgrenzen verboten sind, werden sich die Leser aufatmend auf den »Beaumarchais« stürzen.
Er überlas, was er da hingeschrieben hatte, und war betreten. Dazu hatte er sich doch nicht vor die Historia Arcana gesetzt. Er hatte sich erfreuen wollen an einer Leistung, mit der er sich innerlich vor Jacques Tüverlin hätte rechtfertigen können.
»Schade um die schöne Seebarbe«, hörte er eine helle, gequetschte Stimme sagen.
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