Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Verzeihung gibt: er ist aus dem Kampf gegen die Urbösen davongelaufen, mitten in der Schlacht. Er hat sich dumme, überhebliche Dinge vorgespiegelt. Er hat »Gott« gesagt und seinen Profit gemeint, eine große, dicke Ziffer in seinem Hauptbuch. Natürlich hat er das nicht wahrhaben wollen, er hat sich verkrochen vor Gott und vor sich selber. Aber Gott hat ihn zu finden gewußt, wie er Kain zu finden gewußt hatte, den Brudermörder.
Herr Gingold zerfleischte sich. Ja, ja, ja, er hat sich überdeckt mit Sünde. Aber so furchtbar hätte ihn Gott trotzdem nicht zu strafen brauchen, so furchtbar nicht.
Ida, meine Tochter, jammerte es in ihm, mein Kind, mein süßes, kleines, mein zartes, mein Hindele; denn jetzt nannte Herr Gingold seine Tochter nicht mehr mit dem Namen Ida, mit dem falschen Namen ihrer falschen Welt, sondern mit ihrem echten, da aber hieß sie Hindele, kleine Hindin, kleines Reh. Und wenn sie auch nichts mehr von einem Reh an sich hatte, sondern eine Jüdin vom Kurfürstendamm war, elegant und leicht verfettet, für Herrn Gingold blieb sie Hindele, sein Rehlein, sein Kind. Er hatte allerlei gelesen von Konzentrationslagern, er hatte Erfahrungen gemacht mit der Niedertracht, Tücke und Grausamkeit der Menschen, er hatte Vorstellungskraft, und sein Herz preßte sich zusammen, wenn er daran dachte, was die Urbösen anstellen mochten mit seinem Kind in einem Konzentrationslager. »Oh, oh, oi, oi«, stöhnte er, und: »Ein geschlagener Mann, geschlagen von Gott«, jammerte er vor sich hin. Es war ein leises Gewinsel, aber es war darin ein unerträglicher Schmerz, und Nachum Feinberg mußte sich Gewalt antun, um sich nicht die Ohren zuzuhalten.
Die Väter und Vorväter Herrn Gingolds hatten zahllose Verfolgungen durchgemacht, sie hatten Lebenskraft gehabt und hatten, jede Generation für sich, Wut, Mitleid, Haß, Ergebung in Gott und wollüstige Rachevorstellungen stärker erlebt als viele ihrer Zeitgenossen. Wut, wollüstige Rachevorstellungen, Mitleid und Haß durchrasten jetzt auch Herrn Gingold.
Schmerzhafter aber als alles andere durchbohrte ihn das Gefühl seiner Ohnmacht. Sie hatten ihn in der Hand, die Urbösen, sie hatten seine Tochter in der Hand, er hatte sie ihnen, Narr, der er war, selber, sehenden Auges, überliefert. Er war tierisch dumm, ein Verbrecher, ein Sünder, ein Narr, ein mit Recht geschlagener Mann. Er vergaß, daß er in einem Haus an der Avenue de la Grande Armée war, in der Stadt Paris und in Gegenwart des geistigen und belesenen Herrn Nachum Feinberg, er stöhnte vor sich hin, leise, sinnlos.
Lang indes dauerte dieser Ausbruch nicht. Bald fing HerrnGingolds Verstand wieder zu arbeiten an. Wie holte er sein Kind, sein Hindele, aus dem Konzentrationslager zurück? Es gab ein einziges Mittel: er mußte den Trautwein, diesen Lumpen, endlich hinausschmeißen aus seiner Redaktion.
Das einmal erkannt, fand Herr Gingold sogleich die alte Entschlossenheit und wurde wieder der schlaue, süßlich lächelnde Kaufmann seines Alltags. Bestürzt und bewundernd sah Nachum Feinberg, wie sein Herr im Ablauf zweier Sekunden aus Sinnlosigkeit und Verzweiflung herauftauchte in die Welt der Wirklichkeit und sich zurückverwandelte in den großen Balzacschen Geschäftsmann.
»Ich glaube fast«, sagte dieser große Geschäftsmann und schüttelte verwundert und wie zur Entschuldigung den Kopf, »ich habe so was wie eine kleine Herzattacke gehabt. Ich müßte einmal wieder zum Arzt. Aber man hat ja nie die Zeit.« Kein Wort ließ er verlauten von dem Brief, den er erhalten hatte.
Andern Tages fuhren seine Kinder aufs Land. Es war geplant gewesen, daß er mitkommen sollte; aber sie mußten ohne ihn fahren. Er blieb in der Stadt unter dem Vorwand dringlicher Geschäfte, allein mit Nachum Feinberg. Seine Niederlage bekannte er niemand ein.
Noch häufiger als bisher sah man ihn jetzt auf der Redaktion der »P. N.« herumsitzen, behutsam, leise, höflich. Er kramte in den Manuskripten und Korrekturfahnen, er spähte nach einer Blöße Sepp Trautweins. Der naive, heftige, unvorsichtige Mensch wird ihm sicher bald einen Vorwand geben, ihn zu packen und hinauszuwerfen. Diesmal aber wird Gingold den Vorwand gut prüfen, ob er auch stichhaltig ist. Er wird schlau und findig sein, die Liebe zu Hindele, seinem Kind, wird seinen Verstand schärfen, und er wird den Mann Trautwein hinausfeuern und seine Tochter den Urbösen abjagen.
Er war noch liebenswürdiger als früher, vor Sepp Trautwein war er von
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