Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
zum Trotz getan. Sind die vielen Jahre, die man zusammen gelebt hat, gar nichts mehr, nur weil man nicht mehr in München ist, sondern in Paris?
Heute früh hat er diesen Brief bekommen. Warum hat er auch dann noch nicht den Mund aufgemacht? Warum hat er sie nicht angerufen, sich mit ihr zu beraten? Wenn er schon den Sonnabend und den Sonntag über geschwiegen hat, wie hat er es über sich gebracht, noch nach diesem Brief sein niederträchtiges Versteckspiel fortzusetzen? Will er ihr zeigen, daß sie nicht mehr zu ihm gehört, daß er mit seinen Sachen allein fertig wird?
Sie wird heute noch einmal mit Herrn Mercier sprechen. Er muß diese Holzplanke richten lassen. Es ist ein Skandal, wie alles verlottert und wie man herunterkommt. Die Holzplanke. Der Bodenbelag. »Sie werden’s auch noch billiger geben, Frau Kohn.«
Simmels sind auch nicht mehr da. Scheußlich allein ist man. Niemand ist da, mit dem man reden könnte. Soll sie vielleicht mit Elli Fränkel reden?
Wahrscheinlich hat Sepp recht, sie gehören nicht mehr zusammen, sie zerreiben sich nur einer am andern, und einer schwächt und schädigt den andern. Sie hätte Wohlgemuths Angebot annehmen und allein nach London gehen sollen. Sie versteht Sepp nicht mehr und der nicht mehr sie.
Wie hängt das alles zusammen? Wie kommt sie in dieses schäbige Hotel Aranjuez? Warum muß sie sich mit diesemschofeln, widerwärtigen Herrn Mercier herumstreiten um die Holzplanke? Sie gehört doch nicht hierher, sie gehört nach Deutschland. Wenn sie Sepp nicht getroffen hätte, ob sie dann wohl in Deutschland geblieben wäre? Quatsch. Ausgestoßen ist man von da, wo man hingehört, ob mit Recht oder Unrecht, das ist gleich. Es ist so, wie es ist, fürs Gehabte gibt der Jud nichts.
Drei Minuten vor halb neun. Wie schnell dieser Abend vergangen ist. Es ist noch ganz hell, es ist eine unangenehme Helle, und kühler wird es auch nicht. Die Uhr ist schön. Sie ist das einzige, was einem geblieben ist.
Wenigstens telefonieren hätte er ihr können. Was er wohl die ganze Zeit tut? Wo er sich herumtreibt? Vermutlich erzählte er seinen Freunden von dem, was ihm zugestoßen ist. Möglich sogar, daß er den Pfau macht und ihnen vorspielt, wie er es dem Gingold gegeben hat. Zu andern läuft er, zu Tschernigg, zu Ringseis. Oder auch zu seiner Erna Redlich. Ihr hat er nicht einmal telefoniert. Es ist eine Gemeinheit. Und sie hat Tschernigg wieder zu einem Menschen gemacht, nur um Sepps willen.
Hat sie schuld, daß alles so gekommen ist? Sie hat sich immer anständig gehalten, sie kann sich keine Vorwürfe machen. Seitdem es schlecht geht, hat sie den größten Teil auf sich genommen, das darf sie ruhig behaupten, und sie hat nicht geklagt, vor ihm nicht und nur selten vor sich selber. Warum behandelt er sie so? Sie ist der einzige Mensch, der weiß, was in ihm steckt, und der einzige, auf den er sich verlassen kann. Alle andern sind lau. Glaubt er vielleicht, wenn es darauf ankommt, dann wird Tschernigg zu ihm halten? Oder diese Erna Redlich? Jetzt hat er es ja zu spüren gekriegt, wieviel Verlaß auf Menschen ist. Stein und Bein hat er auf seinen Heilbrun geschworen: da liegt seine Unterschrift. Es gibt niemand, der zu ihm hält, nur sie. Und dann telefoniert er ihr nicht einmal.
Sie will nicht selbstgerecht sein, sie will ihm nicht unrecht tun. Es sind die Verhältnisse, an denen ihre Beziehungen kaputtgegangen sind. Kunst braucht Zeit. Kunst geben brauchtZeit, und Kunst nehmen braucht Zeit, Zeit und einen freien Kopf. In Deutschland haben sie Zeit und einen freien Kopf gehabt, darum ist alles zwischen ihnen gut gegangen. Jetzt, im Exil, haben sie weder Zeit noch den freien Kopf. Es ist das Exil, das ihre Liebe kaputtgeschlagen hat.
Auch wenn Sepp zu seiner Musik zurückgekehrt wäre, sie wäre nicht mehr die Rechte für ihn gewesen. Ihr Betrieb, ihr blöder, kleiner Betrieb hat sie aufgefressen, auch innerlich. In Deutschland sind ihr die Sorgen des Alltags so erschienen, wie sie waren, in ihrer ganzen Winzigkeit und Erbärmlichkeit: im Exil haben sie sich ihr vergrößert und ihr schließlich keinen Raum mehr gelassen für anderes. Natürlich ist das Lied, das Sepp vorgestern gemacht hat, wichtiger als der ganze Wohlgemuth und Gingold und Heilbrun zusammen, das hat sie auch gespürt. Aber sie hat es ihm nicht sagen können, gerade damals nicht, sie war da zu abgehetzt und vertan, es war zuviel über ihr zusammengeschlagen.
»Mächtige Reiche vergehen, aber ein Homer-Vers
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