Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
kranke Mann stirbt, und der starke Mann ficht.« Wie schön, daß sie kein starker Mann ist. Wie schön, daß sie liegen und schlafen darf. Wenn es noch stiller wäre, wäre es noch schöner. Wenn sie das Fenster zumachte, dann wäre es noch stiller. Aber sie ist zu müde, das Fenster zuzumachen.
Es ist schon das Richtige. Wenn Sepp nach Hause kommt, dann gibt er keine Ruh, dann muß er sich mit ihr auseinandersetzen. Dann wird er ihr lang und breit erklären, warum esden Krach mit Gingold gegeben hat und daß er so und nicht anders handeln mußte und daß es so auch gut für sie beide ist. Und er wird furchtbaren Unsinn reden, und sie, wenn sie auch weiß, daß es zwecklos ist, und wenn sie sich auch noch so fest vornimmt, seinen Unsinn zu schlucken, sie wird es nicht können, sie wird erwidern, und das alles kostet Kraft und zerrt schmerzhaft an den Nerven, und sie hat es zwei Jahre mitgemacht, und nun will sie es nicht länger.
Sie hat ihre Pflicht getan, und jetzt will sie Ruhe haben. Ruhe vor Sepp, Ruhe vor der Welt, Ruhe vor Hitler, Ruhe vor Gott, Ruhe vor sich selber. Sie spielt nicht mehr mit, sie will nicht mehr.
Neunhundertvierzehn, neunhundertfünfzehn, neunhundertsechzehn. Sie liegt da mit geschlossenen Augen. So lange hat sie darum gekämpft, glücklich zu sein, und es ist nichts geworden: jetzt, wo sie es aufgegeben hat, wo sie nicht mehr kämpft, jetzt ist sie glücklich. Arme Anna, schöne Anna, dumme Anna, tapfere Anna, so sinnlos war deine Tapferkeit, so idiotisch war dein Kampf, erst jetzt, mit achtunddreißig, bist du gescheit geworden.
Über ihr müdes, entspanntes Gesicht geht ein leises, listiges Lächeln, die Idee eines Lächelns.
Jetzt ist es vollends dunkel. Ob es wohl schon halb zehn ist?
Wenn es halb zehn ist, und er ist nicht da, dann wird sie es tun. Sie kann die Uhr nicht mehr erkennen und hat Angst davor, Licht zu machen. Und wenn Sepp jetzt nach Hause kommt? Dann hätte sie das Spiel verloren und dürfte es nicht mehr tun. Es wäre eine schreiende Ungerechtigkeit und ein furchtbares Pech, wenn er käme. Gott, die Summe mehrerer psychologischer Tatbestände, darf das nicht zulassen. Nein, nein, es wird auch keiner kommen. Der Junge ißt auswärts, und Sepp sicher auch, sonst wäre er schon lange da.
Eigentlich sollte sie für Sepp noch was aufschreiben. Schließlich hat er sie geliebt, es wird ihn erschüttern, daß sie das tut, und was sie ihm für diese Stunde der Erschütterung aufschreibt, wird auf ihn wirken. Das Wichtigste wäre, daß ervon seiner Politik abläßt. Sie ist überzeugt, daß er von praktischer Politik nichts versteht. Er bringt für seine Politik nichts mit als den dumpfen Willen zum Guten und die Bereitschaft, zu helfen. Das ist nicht genug. Was ihm fehlt, ist die Technik, das Talent, die Skrupellosigkeit und Gemeinheit, die zur Politik gehören. Musiker ist er nicht nur von ganzem Herzen, sondern auch von ganzem Verstand. Das müßte sie ihm vielleicht noch aufschreiben. Aber sie hat es ihm so oft gesagt, und wenn er’s nicht geglaubt hat, solange sie es ihm mit ihrer Stimme sagte, die er liebte, dann wird er einem Fetzen Papier auch nicht glauben. Auch ist sie viel zu müde, um es in richtigen, wirksamen Worten aufzuschreiben.
Man darf sie nicht zu früh finden. Sonst bringt man sie ins Leben zurück, und alles wäre umsonst gewesen, und das Schreckliche finge von neuem an. Wie soll sie es machen? Wenn sie den Schlauch in den Mund nimmt, dann geht es schneller, dann findet man sie schon nicht zu früh. Hanns kommt sicher nicht vor Mitternacht nach Haus. Er murkst jetzt an irgendeiner politischen Sache herum und steckt, wenn er ausgeht, endlos mit seinen Freunden und Genossen zusammen. Vielleicht ist er auch bei seiner saubern Madame Chaix. Sie sind Herumtreiber, ihre beiden Männer. Um Hanns hat sie keine Sorge. Der wird fertig mit dem Leben. Anders fertig als sie.
Leid ist ihr, daß sie ihr Haar nicht noch einmal hat auffärben lassen. Sie möchte, daß sie gut ausschaut, wenn Hanns sie zum letztenmal sieht. Er ist ihr ganz fremd geworden, er hat sich ganz von ihr getrennt. Sie möchte ihm schrecklich gern noch einmal über den Kopf streichen. Es ist also wirklich das letztemal gewesen damals, wie sie gedacht hat: Einmal muß es das letztemal sein.
So, jetzt wird sie aufstehn. Das Licht tut wirklich schrecklich weh; sie blinzelt so, daß sie die Uhr kaum erkennt. Sieben Minuten nach halb zehn. Sie darf es tun.
Sie schließt das Fenster. Sie muß
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