Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
lebt ewig«, dieses Wort eines großen Deutschen hat Sepp ihr gerne zitiert, und in Deutschland hat sie es verstanden. Jetzt ist ihr eine Arbeitskarte wichtiger als Mozart und Beethoven zusammen.
Sie spürt auf einmal schrecklichen Hunger. Sie ist den ganzen Tag auf den Beinen gewesen und hat lange nichts gegessen. Vielleicht sind es nur Hunger und Schwäche, die sie alle Dinge so schwarz sehen lassen. Auf alle Fälle wird sie jetzt etwas essen.
Sie geht in die Küche, schlägt sich zwei Eier auf, nimmt Milch und Butter. Die Milch hat umgeschlagen. Madame Chaix hat wieder einmal die neue Milch zur alten geschüttet. Für ihr Rührei wäre damit nichts verloren; trotzdem packt sie eine sinnlose Wut. Warum hat sie die Person nicht hinausgeworfen? Sie zittert vor Grimm, vor einem maßlosen, ohnmächtigen Grimm gegen Sepp, gegen Madame Chaix, gegen Hanns, gegen Hitler, gegen sich selber. Sie läßt in der Küche alles stehen und liegen, geht zurück, wirft sich auf ihr Bett, weint.
Sie hat zwei Jahre durchgehalten. Ein Tag war schlimmer als der andere und eine Nacht schlimmer als die andere, sie ist in diesen zwei Jahren zu einer Parodie der früheren Anna geworden, aber sie hat sich nicht gehenlassen, sie hat durchgehalten. Jetzt kann sie es nicht mehr. Sie will auch nicht mehr. Fast wollüstig merkt sie, wie ihre Energie zusammenbricht. Es war eine künstliche Fassade, und was dahinter ist, das ist eine Frau, hilflos, keiner Anstrengung mehr fähig, weinend, verströmend.
Es dämmert stark, es ist schon fast dunkel, und das tut wohl. Es war ein langer Tag, so lang wie böse. Jetzt, man kann die Uhr gerade noch erkennen, ist es zehn Minuten vor neun. Was wohl Sepp jetzt treibt? Wahrscheinlich sitzt er mit seiner Erna Redlich zusammen in irgendeinem Bistro und ißt und hält große Reden. Um halb zehn ist es bestimmt vollends Nacht. Wenn es vollends Nacht ist und wenn er dann nicht zu Hause ist, wenn er um halb zehn nicht zu Haus ist, dann …
Was dann?
Die Uhr muß heute aufgezogen werden. Es ist eine schöne Uhr, und sie ist stolz darauf, daß sie sie gerettet hat. Aber wenn sie genau gehen soll, muß man sie pflegen, man muß sie alle acht Tage aufziehen. Das wäre ein böser Witz, wenn sie vor halb zehn Uhr stehenbliebe. Sie kramt den Schlüssel heraus, steigt auf einen Stuhl, zieht die Uhr auf. Einmal muß es das letztemal sein.
Wieder vom Stuhl herunterzusteigen kostet Mühe. Dieser Tag hat sie hergenommen. Soll sie sich doch noch die Rühreier machen? Sie ist zu erschöpft. Sie wirft sich aufs Bett, längelang, und nun gelingt es ihr, sich zu entspannen: ihre Müdigkeit tut nicht mehr weh, sie spürt die Lust des Liegens, der Ruhe.
Sie hat lange genug die Ohren steifgehalten, jetzt darf sie sie hängenlassen. Sie hat ihre Pflicht getan, jetzt ist Feierabend. Feierabend. Sie hat ein Recht darauf. Leider hilft einem das wenig. Wenn sie alles hätte, worauf sie ein Recht hat, dann säße sie jetzt nicht hier in diesem finstern HotelAranjuez, sondern in Deutschland, in ihrem schönen Haus und in tiefem Behagen. Es kommt nicht aufs Recht an und nicht auf die Anständigkeit und nicht auf die Pflicht. Wenn es darauf ankäme, dann wäre Elli Fränkel an ihrer Stelle, und sie, Anna, ginge nach London. Nicht das Recht regiert, nur das Glück, der nackte Zufall.
Sie will jetzt nicht räsonieren, sie will schlafen. Sie wird sich eine Schafherde vorstellen, die über eine Hürde springt, ein Schaf nach dem andern, oder sie wird bis tausend zählen, dann kommt der Schlaf.
Zweihundertachtundsiebzig, zweihundertneunundsiebzig, zweihundertachtzig. Vor fünf Minuten ist es ihr unglaubhaft vorgekommen, daß Müdigkeit wohltun kann und nicht weh. Ausruhen. Feierabend. Ferien machen. Die Sommerferien, das war ihre Sehnsucht, das war ihr großes Glück, wie sie ein Kind war. Jetzt kommen sie, die großen Sommerferien. Es war ein schlimmes Schuljahr, und sie hat ein schlechtes Zeugnis bekommen. Ein ungerecht schlechtes Zeugnis. Aber darauf kommt es jetzt nicht an. Sie weiß, sie hat das Ihre getan, das Zeugnis ist ungerecht, und jetzt sind Ferien, das ist die Hauptsache.
Wer hat das bewirkt, daß das Schuljahr so schlecht und das Zeugnis so ungerecht war? »Gott ist die Summe mehrerer psychologischer Tatbestände«, pflegt Sepp zu sagen. Wenn Sepp ein solches Zeugnis bekäme, dann würde er denken: Leckt mich am Arsch.
Fünfhundertdreizehn, fünfhundertvierzehn, fünfhundertfünfzehn. Großartig ist es, hier zu liegen. »Der
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