Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Walther-Lied. Sie hört es ganz genau. »Ja, wenn Herr Walther kröche, wie er euch dann willkommen wär. Herr Walther singt doch, was er will.« Jedes Wort, jeden Ton hat sie im Ohr, wie er ihr’s vorgespielt und vorgekrächzt hat. Sie lächelt. Es ist ein guter, allerbester Sepp Trautwein. Es ist das letzte, was er ihr vorgespielt hat. Einmal muß es das letztemal sein. Sie hat ihn zuwenig gelobt. Ein Künstler braucht Lob. Wenn er wüßte, daß ihr jeder Ton im Ohr geblieben ist und im Herzen, das würde ihn freuen. Eigentlich sollte sie es ihm noch aufschreiben, daß das ein sehr gutes Lied geworden und daß ihr vom ersten Hören jeder Ton geblieben ist. Aber es ist zu schwer, aus der Wanne herauszusteigen. Sie lächelt, sie lächelt immer stärker.
Die unten klopfen noch immer. Sie braucht sich nicht mehr darum zu kümmern. Sollen sie sich morgen bei Herrn Mercier beschweren.
Ob das Sünde ist, was sie tut? Sie ist gerichtet. Ist gerettet. Zur letzten Berliner Aufführung des »Faust« hat Sepp die Musik geschrieben. Es war herrlich, wie ihm das »Ist gerettet« geglückt ist. Es kommt strahlend und doch so gar nicht wie in der Kirche und gar nicht pathetisch und gar nicht sentimental. »Ist gerettet.«
Da können die lange klopfen.
Die Nachbarn klopfen denn auch lange, von nebenan, von unten, von oben. »Die kleine Nachtmusik« war längst vorbei, und das Radio ging noch immer. Es verkündete Nachrichten, gab meteorologische Informationen, hielt einen politischen Vortrag, sang Arien aus italienischen Opern und spielte Tanzmusik, alles in der gleichen Tonstärke. Das Radio spielte noch, als Sepp nach Hause kam.
2
»Sie hat den Löffel weggeworfen«
Sepp war, nachdem er Gingolds Brief gelesen und das Hotel Aranjuez verlassen hatte, in der heißen Stadt Paris herumgegangen. Zuerst ging er das linke Seine-Ufer entlang, zu Boden schauend, die Füße nach einwärts, in Gedanken, manchmal auch mit sich selber sprechend; dann ging er wieder zurück, dann, mechanisch, über eine Brücke, ein gutes Stück die Kais entlang, wieder zurück, wieder über eine Brücke, er geriet auch auf die Insel.
Er dachte vielerlei durcheinander, aber immer wieder kehrten seine Gedanken zurück zu dem bevorstehenden Gespräch mit Anna. Im Geist haderte er bereits mit ihr. Mit vielem hatte sie recht, aber er gab sich selber nicht preis. Er bemühte sich, ihr zu erklären, wer oder was das sei, dieses einmalige Wesen Sepp Trautwein, gemischt aus vielen dunklen und vielleicht bösen Süchten und einigen wenigen richtigen Gedanken, gemischt aus dem Niederschlag der Erlebnisse vieler Münchener Geschlechter, gemischt aus zahlreichen Schwächen und einigen Tugenden, und mit einem dicken Bodensatz Musik und guten Willens. Entschlossen, sich zu verteidigen, nahm er sich trotzdem vor, ihre Argumente sachlich anzuhören und zu erwägen. Wenn er sich frisch und sauber angezogen hatte, dann deshalb, weil er ihr beweisen wollte, daß ihr Tadel über seine Schlamperei nachwirkte, weil er seinen ernsthaften Willen zeigen wollte, alles einzurenken und wiedergutzumachen. Jetzt also zog er sich gewissermaßen auch innerlich anständig an und säuberte sich für die große Aussprache.
Übrigens müßte eigentlich gerade Anna froh sein, daß alles so gekommen ist. Hat sie ihm nicht immer zugeredet, seine Politik aufzugeben, damit er Zeit freikriege für seine Musik? Übrigens bedeutet ihm selber der Gedanke, daß er jetzt für ein paar Wochen keine Politik machen muß, in seinem heimlichstenInnern eine Erlösung. Hat er vielleicht deshalb den neuen Anzug angezogen, weil jetzt der alte Sepp hin ist?
Es war inzwischen Mittag geworden, er war lange herumgelaufen, die Gemeinheit Gingolds und die Treulosigkeit Heilbruns hatten ihn arg mitgenommen, er fühlte sich hungrig. Er setzte sich auf den Perron einer Kneipe, aß, in Gedanken, schlecht, mit gutem Appetit.
Hernach ging er wieder durch die Straßen, ruhelos. Um die Mitte des Nachmittags sah man ihn im Garten des Luxembourg sitzen, immer sinnierend, abwesenden Gesichtes. Es war ihm die Idee gekommen, daß er eigentlich Anna anrufen könnte. Er fühlte sich jetzt gerüstet, ihr zu erklären, warum er so scheinbar unverständlich gehandelt hatte. Es war eben nicht unverständlich, und es mußte ihm gelingen, ihr das begreiflich zu machen. Dann wieder glaubte er, es sei doch besser, zuerst andern davon zu erzählen, Tschernigg, Ringseis oder Erna Redlich. Wenn er gesehen haben wird, wie die auf seinen
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