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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Bericht reagieren, dann wird er besser vor Anna bestehen können; er wollte vor ihr keinen Fehler machen. Er rief Erna Redlich an und verabredete mit ihr ein Zusammentreffen für den Abend. Mit Anna wird er sich morgen früh aussprechen, wenn er sich alles noch einmal gut überlegt und die Ansicht anderer gehört hat.
    Eine kurze Weile dachte er daran, auf die »P. N.« zu gehen und Heilbrun seine Meinung zu sagen. Dann verschob er es; solange er so wütend ist, wird er höchstens eine neue Dummheit machen. Er wird lieber den alten Ringseis aufsuchen. Der hat etwas wohltuend Ruhiges und betrachtet Menschen und Dinge mit der notwendigen Abgeklärtheit.
    Geheimrat Ringseis wohnte sehr weit draußen, in Belleville. Es war eine große Mietskaserne, in der er hauste, Sepp hatte Mühe, ihn aufzustöbern. Sein Zimmerchen lag hoch oben, unterm Dach.
    Sepp fand den Alten zu Bett. Die winzige Kammer war schwül und voll Schweißgeruch. Er leide jetzt immer stärker an Rheumatismus, erzählte Ringseis, und er äußerte in umständlichenWorten seine Freude über Sepps Besuch. Dann aber bekam er wieder Schmerzen, das blasse, große, faltige Gesicht im Rahmen des Schifferbarts verzog und verzerrte sich bitterlich. Sepp hielt es für besser, nichts zu sagen, er saß still da und schaute auf den kranken Mann. Der lag eine Weile, beschäftigt mit seinen Schmerzen. Dann war offenbar das Schlimmste vorbei, er kehrte zurück aus dem Bereich seines Leidens, schaute den Besucher aus seinen großen, vorquellenden Augen herzlich an und bat ihn, er möge ihm von sich selber berichten.
    Sepp erzählte, was ihm zugestoßen war. Ringseis hörte aufmerksam zu. »Es ist schade«, sagte er schließlich, »daß man nur Worte vermitteln kann, nur die Namen und Bezeichnungen einer Erkenntnis, einer Erfahrung, eines Wissens, nicht das Wissen selbst. Das ist zum Beispiel die Wissenschaft vom Warten. Wer Warten gelernt hat, dem kann nichts und kann keiner mehr an. Daß ich es Ihnen offen gestehe«, fuhr er fort, geheimnisvoll, mühsam, »ich selber, nachdem ich Deutschland hatte verlassen müssen, war eine ganze Weile unruhig, ich möchte beinahe sagen, unglücklich. Es war mir vor allem um ein bestimmtes Manuskript leid.« Und da er einmal in Fahrt war, erzählte er ausführlich: »Ich hatte es nämlich übernommen, für die Realenzyklopädie den Artikel über Xanthippe zu schreiben. Ich habe seit zwanzig Jahren zusammengetragen, was darüber zu finden war, und ich bin auch zu neuen, schlüssigen Ergebnissen gekommen, geeignet, den Ehrenrettern der Xanthippe recht zu geben. Die Welt ist schmähsüchtig, und in zweitausenddreihundert Jahren kann man viel Böses zusammentragen, um es einer wackeren toten Frau anzuhängen. Mir gefiel das nicht, es gefällt mir auch heute nicht. Ich war also, wie sich denken läßt, froh an meinem Material, und es hat mir leid getan, daß es im Seminar in Schrank 6 bei den alten Akten zurückgeblieben ist.« Er schwieg, dann breitete sich langsam ein verschmitztes Lächeln über sein großes, farbloses Gesicht. »Aber sehen Sie«, berichtete er weiter, »wie ich jetzt sozusagen neu habe anfangen müssen mit dem Material zu Xanthippe,da habe ich zu einem gewissen Scholion eine Konjektur gemacht, eine sehr einleuchtende und für meine Zwecke sehr wichtige Konjektur, die entscheidende geradezu. Wenn ich aber mein altes Material einfach hätte übernehmen können, dann hätte ich die Stelle gewiß nicht noch einmal bedacht und wäre nicht auf meine Konjektur gekommen. Es war also übereilt, daß ich mich geärgert hatte, und es ist von vornherein töricht gewesen. Denn, sehen Sie, das Ganze hatte keine Eile und hat sie auch jetzt noch nicht. Wie ich fortging, standen wir in der Realenzyklopädie bei dem Buchstaben T, bei dem Band Taurisci-Thapsis, und zwölf Jahre dauert es also noch im günstigsten Fall, bis wir bei dem Buchstaben X und bei Xanthippe sind. Bis dahin wird Odysseus längst zurückgekehrt und über unsere Barbaren wird da schon viel Gras gewachsen sein. Aber ich wollte nicht von mir sprechen, mein lieber Sepp«, entschuldigte er sich, »sondern von Ihnen. Sich innerlich vorbereiten, darauf kommt es an. Es gibt wenig Dinge, die nicht morgen besser getan werden können als heute.« Das waren Kalenderweisheiten; dennoch sänftigten sie Sepp und halfen ihm über eine böse Stunde fort.
    Dann kam der Abend, und er ging in das Restaurant, wo er sich mit Erna Redlich verabredet hatte. Er langte früher an als zu der

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