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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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eine Arbeitskarte, und die bekam er nicht. So ging es herunter, die Unterstützung der Komitees war befristet, eine Zeitlang baute er billige, komische Musikinstrumente für heitere Abende, zwei Wochen lang verkaufte er Juxartikel in Nachtlokalen, Kleider und Wäsche gingen zum Trödler, schließlich landete er in der Baracke, blieb, solange man ihn dort duldete, schlief unter den Seinebrücken, wurde nochmals für vierzehn Tage in der Baracke aufgenommen, allmählichzerfiel auch der letzte Anzug, und jetzt ist man eben von Beruf Clochard. »Manchmal«, berichtete er, »habe ich natürlich daran gedacht, Schluß zu machen. Ich bin froh, daß ich es nicht getan habe. Zuerst ist es nicht ganz einfach, Clochard zu werden. Wir haben auch unsern Stolz und unsere Zunft und unsere Gesetze, und man muß erst ein gewisses Tief erreicht haben, ehe wir einen aufnehmen und unter uns dulden. Aber wenn man das einmal erreicht hat, ist es nicht das schlimmste. Besonders nicht im Sommer. Dazu hab ich das Glück gehabt, diese Gegend zu entdecken, die von den andern übersehen worden ist, und jetzt hab ich einen gewissen Urheberanspruch. Die andern haben geglaubt, hier sei es aussichtslos, weil hier doch nur arme Leute wohnen. Aber ich habe Nase bewiesen. Die Villen dazwischen sind ganz ergiebig, man muß sie nur zu finden wissen. Vor allem Nummer 37. Ich sage Ihnen, Professor Trautwein, mindestens jede dritte Nacht fische ich da was aus dem Müllkasten. Kinder gibt es auch keine auf Nummer 37, Hunde auch nicht, fast die ganzen Reste fallen an mich.« Und er machte sich wieder über seinen Müllkasten her.
    Er starrte das silberne Zwanzigfrankenstück an, das ihm Sepp gab. »Es gibt noch reiche Leute«, sagte er, »Reichlinge, Ricconi, Richards. Merkwürdig, daß es im Französischen Richards heißt«, und Sepp hatte auf dem ganzen Nachhauseweg sein verlegenes Lachen im Ohr und brachte auch nicht aus seiner Erinnerung den scheu und frechen Blick der entzündeten Augen, mit denen Sigmund Manasse, der Autor des Werkes über Stamitz, der Clochard, ihn angestarrt hatte.
    Richard, dachte er, der Reichling, Clochard, der Strolch, der Vagabund, der Schlawiner. Es hat wohl nichts mit cloche, die Glocke, zu tun, es kommt wohl eher von clocher, hinken. Schlawiner kommt von Slowake. Hitler dürfte seiner Rasse nach ein Slowake sein, also ein Schlawiner. La comparaison cloche, der Vergleich hinkt. Wenn du aber gar nichts hast, o so lasse dich begraben, denn ein Recht zum Leben, Lump, haben nur, die etwas haben. Man sollte sich nicht zuviel einbilden. Ilne faut pas clocher devant le boiteux, vor dem Lahmen soll man nicht hinken. Und da will ich Musik machen. Und da will ich mich vor der »P. D. P.« drücken und Musik machen und den »Wartesaal« schreiben. Darf man Musik machen, solange die Sigmund Manasse zusammen mit den Hunden in den Müllkästen herumschnüffeln? Darf man den »Wartesaal« beschreiben, statt dafür zu sorgen, daß er verschwindet? Unmut, eine an Verzweiflung grenzende Resignation füllte ihn an, daß er die Kette trug und nicht davon loskam. Er war mit einemmal maßlos müde.
    Alberne und verzweifelte Assoziationen suchten ihn heim: Clochard, der Strolch, clocher, hinken, la cloche, die Glocke. Die Glocke ruft einen. Man darf die Kirche nicht schwänzen. Wenn man die Kirche schwänzt, kommt die Glocke gewandelt. Die Glocke, Glocke tönt nicht mehr, die Glocke kommt gewackelt.
    Man muß das ändern, man muß. Man darf nicht schwänzen, man muß sich bequemen. Man muß Politik machen, es ist einem nichts anderes erlaubt. Die Glocke, Glocke tönt nicht mehr, der »Wartesaal« muß warten.
    Aber am andern Morgen, als er erwachte, widerrief er, entrüstet über sich selber, seine Beschlüsse von gestern abend. Daß er sich von dem Mitleid mit Sigmund Manasse hatte überrumpeln lassen, daran ist nur seine Müdigkeit schuld gewesen. Wenn er einem Peter Dülken hat standhalten können, dann wird er auch noch mit einem Sigmund Manasse fertig. Er hat sich alles klargemacht, er hat gute Gründe vor sich selber und vor den andern. Er ist dazu geboren, Musik zu machen, und nicht, die Welt zu ändern. Sollen das gefälligst diejenigen besorgen, die dazu das Talent haben.
    Und ist es nicht eine Fügung, ein deutlicher Hinweis des Schicksals auf seine Bestimmung, daß die Quelle wieder fließt? Er setzte sich ans Klavier. Aber woran er sich machte, das war nicht »Der Wartesaal«, das war jenes Walther-Lied: »O weh, wie sind verschwunden

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