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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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einem Bichler bewohnt gewesen war, und wer immer es neu bezog, wurde zum Bichler. Der Bichler hatte Zeit, tausend Jahre hatte der Bichler. »Zeit lassen.«
    Das war wohl die gleiche wackere Weisheit wie die des Alten; dennoch war, was Ringseis meinte, etwas anderes, Tieferes. Mit seinem innern Aug sah Sepp das »Warten«, von dem Ringseis sprach, er hörte es mit seinem innern Ohr. O Glück und Wunder. Mit einemmal war seine Taubheit fort. Es rief, es klang, er hörte Stimmen, Tonfolgen, er sah und hörte. Das Zimmerchen des Alten erweiterte sich ihm zu einem großen Raum. Es war ein kahler Wartesaal, ja es war ein Saal, er hatte bestimmt vier Wände, aber er war so ungeheuer weit, daß man diese Wände nicht sah. Der Raum war unendlich armselig, er glich den Baracken der Emigranten, und wiewohl durchgrellt von dem scheußlichen, kalkigen, erbarmungslosen Licht jener Baracken, blieb er schattenhaft in seinen Winkeln und von undeutlichen Grenzen. Es war aber dieser Saal erfüllt von einem Gewimmel von Menschen; nicht nur die Menschen unserer kümmerlichen deutschen Emigration waren darin, sondern alle Zeitgenossen Sepp Trautweins. Sie hockten da, auf verlumpten Bündeln und Koffern, mit sinnlos zusammengerafftem Hausrat, sie hockten und bewegten sich gleichzeitig,sie waren aufgeregt und resigniert in einem, es war Nacht, denn es brannte ja das kalkige Licht, es war aber auch Tag, es war Sommer, und es war Winter; man wartete schon so lange, daß es keine Jahreszeiten mehr gab und keinen Unterschied mehr zwischen Tag und Nacht. Die Menschen saßen da und gingen gleichzeitig herum, waren fieberisch erregt und gleichzeitig stumpf resigniert, wimmelten durcheinander und rührten sich doch nicht von der Stelle. Es ging keiner fort, und es kamen immer mehr, der Saal war überfüllt, und noch immer kamen neue, und es war ein Wunder, wie sie Platz fanden.
    Es war ein Wartesaal und gleichzeitig ein Gefängnis. Klingeln schrillten, Signale gellten, Lokomotiven pfiffen, Lautsprecher klangen, Züge wurden ausgerufen. Aber die Züge, auf welche diese Menschen warteten, wurden nicht ausgerufen. Bei jedem neuen Aufruf horchten sie hoch, aber die Leute von der Direktion verhinderten, daß die Züge kamen, auf die sie warteten. Immer neue Züge ließen sie abgehen, aber die längst angekündigten Züge, auf die sie warteten, ließen sie nicht abgehen. Sie teilten auch mit, warum nicht; es waren immer fadenscheinigere Gründe, zuletzt wurden die Vorwände so aufreizend erbärmlich, daß auch die Dümmsten unter den Wartenden erkannten, wie zynisch sie waren. Aber was blieb ihnen übrig, als weiter zu warten? Sie waren Objekte einer Herrschaft, die angeblich sie selber ausübten; denn angeblich ließ die Direktion die Züge ja für sie gehen, für sie allein.
    Diesen Wartesaal also sichtete Sepp Trautwein, während und nachdem Ringseis zu ihm sprach. Er sah den Wartesaal, aber mehr noch hörte er ihn. Er hörte, wie die Züge ausgerufen wurden, wie sie ankamen und leer wieder weiterfuhren, oder auch, wie sie durchfuhren, höhnisch langsam an den Wartenden vorbei, und er hörte den Jammer der Wartenden, ihre Verzweiflung, ihre Flüche, ihre Resignation, ihren Zusammenbruch und ihre, trotz allen Enttäuschungen, immer neue Hoffnung.
    In dieser Stunde, in der kleinen, schlechtgelüfteten Kammer,während der alte Ringseis mild, sanft, in geduldigem, fast glücklichem Verfall dalag, einer letzten, kurzen, vorübergehenden Genesung entgegendösend, hier also und zu dieser Stunde hörte Sepp Trautwein zum erstenmal die Klänge jener Sinfonie, »Der Wartesaal«, die ihn berühmt machen sollte.
    Stundenlang noch, nachdem er Ringseis verlassen hatte, lief er durch die Stadt Paris, erfüllt von seiner Vision. War er je in seinem Leben so glücklich gewesen? Ja, die Freude, daß er den strömenden Quell seines Ichs wiedergefunden, lohnte vielfach die Qual, die er die Tage hindurch gespürt hatte, als er ihn versiegt glaubte. Seine Musik trug ihn, hob ihn. Es gab keine Schwierigkeit, die er nicht hätte überwinden können.
    Früher einmal hatte er sich mit der Idee getragen, ein Oratorium zu schreiben »Inferno«. Damals waren es Dantes Verse gewesen, die »es« in ihm hatten erklingen machen; wieviel weiter war er gekommen, daß es jetzt das Leben war, das aus ihm aufklang. Er hatte sich befreit von jenem etwas künstlichen und kalten Humanismus seiner früheren Jahre. Er brauchte für seine Kunst jetzt nicht mehr den Umweg über die Kunst

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