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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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anderer, er hatte in die Wirklichkeit hineingefunden; denn der Wartesaal war nichts anderes als das Inferno, aber viel wirklicher, viel mehr existent. Es war kein leeres Trostwort gewesen, was ihm Ringseis gesagt hatte. Der »leidige, vertrackte Zustand« dieser letzten Zeit, er hatte ihn nicht vergebens auf sich genommen.
    So arm und leer er vor ein paar Stunden gewesen war, so reich war er jetzt. Er lief herum in der Stadt Paris, er hätte jetzt nicht zu Haus sein können, die Wände seines engen, stickigen Zimmers hätten ihn erdrückt. Er lief herum, lief weiter und weiter.
    So geriet er hinaus in die Banlieue, in ein unbebautes Viertel. Zwischen großen, scheußlichen Mietskasernen hatten sich noch einzelne alte Villen erhalten; niedrig und gleichzeitig hochmütig reserviert, duckten sie sich zwischen den hohen, frechen, kahlen Häusern ringsum.
    Es war spät in der Nacht, Sepp war ziemlich allein, seine Schritte tönten in der Stille.
    Vor einer der Villen gewahrte er einen Menschen, der eifrig im Müllkasten wühlte. Der Mann sah hoch, schaute ängstlich und gespannt, ob Sepp vorbeigehe, stutzte dann, machte sich wieder über seine Abfälle her, um schließlich, als Sepp zwanzig oder dreißig Schritte weiter weg war, von dem Müllkasten abzulassen und Sepp zu folgen.
    Dem war es unbehaglich, den verdächtigen Menschen hinter sich herstreichen zu spüren. Er beschleunigte den Schritt, auch der Verdächtige beschleunigte ihn. Die Beleuchtung war spärlich; überdies führte jetzt der Weg zurück zur Stadt durch einen öffentlichen Garten, in dem es recht dunkel war.
    Mit einemmal hörte Sepp eine Stimme hinter sich: »Warum laufen Sie denn so, Herr Professor?« rief es, auf deutsch, und, mit einem unangenehmen Lachen: »Haben Sie vielleicht Angst?«
    Sepp wandte sich um. In dem unsichern Licht kam ein Mensch auf ihn zu, der, je näher man ihn beschaute, um so abgerissener aussah. Hose, Jacke, Schuhe, alles zerfiel, überall kam die nackte Haut durch, der Mensch in diesen Lumpen war nackter als nackt. Aus einem rötlichblond überstoppelten Gesicht zwinkerten, ein bißchen verlegen und dennoch vertraulich, entzündete Augen. »Verstellen Sie sich nicht«, sagte der Kerl, scheu und frech zugleich. »Sie sind doch Professor Trautwein«, und er schaute auf ihn, als müßte ihn Sepp gut kennen.
    »Natürlich bin ich der Sepp Trautwein«, erwiderte Sepp zufahrend, etwas mürrisch, und durchspähte vergebens sein Gedächtnis, wer der Mensch sein könnte. »Strengen Sie sich nicht an, Herr Professor«, sagte der mit beinahe gutmütigem Hohn. »Sie bringen’s doch nicht heraus. Ich bin nämlich Sigmund Manasse.«
    Sepp durchfuhr es. Sigmund Manasse, der die große Monographie über Johann Stamitz geschrieben, der ein für allemal erwiesen hatte, daß dieser Stamitz der Schöpfer der modernen Instrumentalmusik und ein Genie gewesen war? Ja,es war kein Zweifel, es war Sigmund Manasse. Sepp hatte ihn ein paarmal getroffen: er war es.
    »Wenn’s Ihnen vor mir nicht graust«, sagte Sigmund Manasse, »dann können wir ein paar Schritte zusammen machen. Ich habe lange nicht mehr deutsch gesprochen, ich möchte gern einmal wieder deutsch sprechen, man verlernt es sonst. Ich spreche überhaupt wenig«, schloß er.
    Sepp Trautwein stand immer noch, die Füße nach einwärts gekehrt, in unschöner, krampfiger Haltung, und starrte den andern an. Sigmund Manasse, der? »Natürlich gehen wir ein Stück Wegs zusammen«, erklärte er, seine Stimme krähte laut und fremdartig durch die Einsamkeit der Nacht. »Dann begleiten Sie mich vielleicht bis dahin zurück«, bat der Zerlumpte, »wo ich Sie aufgepickt habe. Sonst kommen die Hunde, und ich hab das Nachsehn.«
    Benommen ging Sepp neben dem andern her, durch die öden Vorstadtstraßen, und ließ sich erzählen. Sigmund Manasse erzählte, ohne zu klagen; wenn aus seinem Bericht Gefühl herausklang, dann höchstens grimmige Befriedigung, daß das Schicksal verdienten Leuten so mitspielte.
    Er hatte als Sigmund Manasse, als »Nichtarier«, gleich zu Beginn der Naziherrschaft sein kleines Lehramt niederlegen müssen; privaten Unterricht geben durfte er auch nicht mehr. Er wanderte aus. Die Komitees unterstützten ihn zunächst, aber – geschickt war er nie gewesen – er konnte keine Arbeit, keine Stellung finden. Musikwissenschaft, vor allem diejenige, die er betrieb, war kein gesuchter Artikel. Und wenn er auch bereit war, aufzuspielen, wo immer man ihn haben wollte, dazu brauchte man

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