Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
provinzielle Wendung schien ihm sein Elend zu bagatellisieren, und rasch verbesserte er sich: »Mein Daimonion schweigt.«
Bei diesem Wort Daimonion erinnerte er sich des alten Ringseis. Vor ihm, wenn vor irgendwem, kann er sich aussprechen. Daß er nicht sogleich an ihn gedacht hat. Er suchte ihn auf.
Ringseis lag noch immer in seinem winzigen, übelriechenden Zimmer, schlechtbesorgt, alt und verfallen. »Ein seltener Vogel«, rief er lateinisch, als Sepp eintrat; er war sichtlich belebt. »Hier im Hause«, erklärte er, »gibt es beinahe nur Einheimische, und mit denen bringe ich eine Unterredung kaum mehr zustande. Meine Diktion im Französischen und im Englischen war vermutlich niemals die gebräuchliche, immerhin gelang es mir bisher, mich auch den humanistisch nicht Gebildeten in diesen Sprachen verständlich zu machen. Jetzt aber läßt mein Gedächtnis nach, eine große Reihe notwendiger französischer und englischer Vokabeln sind mir entfallen, und halbwegs geläufig spreche ich nur mehr deutsch, Latein und griechisch. Da freut man sich, wie sich denken läßt, wenn ein deutscher Besucher kommt.«
Sepp sah bestürzt, wie Ringseis dahingeschmolzen war in den wenigen Tagen, da er ihn nicht gesehen. Trotzdem kam es, wie Sepp sich’s vorgestellt hatte: der Alte drängte ihn, zu berichten, und vor ihm konnte er reden. Er sprach von dem großen, verhängnisvollen Irrtum, den er begangen hatte, wie er sich verstrickt hatte in seine Politik, und wie Anna gestorben war, um diesen Strick zu zerreißen, und wie er auch zerrissenwar, und wie er ihn dennoch spürte, so wie einem Amputierten das fehlende Glied noch weh tut. Er erzählte davon, wie er keine Musik mehr machen könne und fürchte, daß der Quell für immer versiegt sei. Er erzählte von seinen Zweifeln und Nöten, er unterschlug nichts, auch nicht, daß er sich vorkomme wie ein fauler Schüler. Er sprach aufrichtig, ein Mensch, der nichts beschönigen und der sich nicht schlechter machen will, als er ist.
Ringseis hörte zu. Groß und schwer lag sein Kopf mit dem Schifferbart auf den verdrückten, unsauberen Kissen. Er regte sich nicht, er schaute Sepp nicht an, mit seinen alten, farblosen, vorquellenden Augen schaute er zur Decke, sein Gesicht sah mild aus, ein wenig abwesend. Trotzdem war es Sepp, als redete er vor seinem Richter und als stünde es bei dem Alten, ihn freizusprechen oder ihn zu verurteilen.
»Ja, mein lieber Sepp«, sagte schließlich Ringseis, »da hat es also auch Ihre arme Anna nicht länger über sich gebracht, zu warten, sondern ist davongegangen, sie hat den Löffel fortgeworfen, wie Sie sich ausdrücken. Die Jungen haben es schwerer, weil sie ungeduldiger sind. Trotzdem ist es wohl nicht das schlechteste, wenn einer auf solche Art davongeht. Ein weiser Mann unter den Alten sagte, die Freiwilligkeit des Sterbens sei das Beste, was der Mensch habe, das Menschlichste, das einzige nämlich, was ihn vom Tier sowohl wie vom Gott unterscheide. Uns andern aber, uns Älteren, mir und wohl auch schon Ihnen, ist es auferlegt, weiter zu warten. Es wird Ihnen schwer gemacht, das Warten, zur Zeit. Sie nehmen wahr, mit Schrecken und mit Angst, daß Ihnen auf einmal die Klänge nicht mehr zu Gebote stehen wie früher, und dazu noch machen Sie sich Vorwürfe, daß in einem gewissen Betracht Sie selber daran die Schuld tragen. Das ist, wie sich denken läßt, ein leidiger, vertrackter Zustand. Aber es wird schon einen Sinn haben, daß Sie warten müssen und sich mit einer Arbeit abmühen, die Ihnen unnütz scheint. Glauben Sie das einem Alten, Sepp, lassen Sie sich’s nicht verdrießen. Warten können, das ist alles.«
Mehrmals schon hatte Ringseis Sepp diese seine Lehre vom großen Warten verkündet, in altmodischen, oberlehrerhaften Wendungen. Sepp waren seine Reden manchmal etwas abgeschmackt vorgekommen; heute aber, aufgelockert durch seine Erlebnisse und ihr Bekenntnis, war er empfänglich für die stillen Worte des Alten, und sie sickerten in ihn ein.
Er dachte an eine Wendung, an einen Ratschlag, den die Bauern seiner Heimat fast wie einen Gruß einander bei jeder Gelegenheit zu erteilen pflegten: »Zeit lassen.« Er dachte daran, wie sein Vater einmal ein Bauernhaus im Vorgebirge gekauft hatte und wie die Bewohner jener Gegend seinen Vater fortan niemals mehr bei seinem Namen Trautwein genannt hatten, sondern er war ihnen zum Bichler geworden, und er blieb ihnen der Bichler, weil das Haus, das er sich gekauft hatte, seit Urzeiten von
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